Des widerspanstigen Zaehmung
Abend erwartete. Von all seinen Geschwistern war sie diejenige, die ihm die ärgsten Sorgen bereitete und mit der er am heftigsten aneinander geriet. Vielleicht lag es daran, dass sie beide sich zu ähnlich waren.
Sie waren arrogant und kühn, sie nahmen sich immer hoffnungsloser Fälle an, und sie zogen Ärger wie magnetisch an. Beide waren sie entschlossen, dass alles so lief, wie sie es wollten, ohne auf die Konsequenzen Rücksicht zu nehmen.
Er blieb vor der Tür zu ihrem Schlafzimmer stehen und wappnete sich für einen weiteren Streit. In Augenblicken wie diesem wünschte er sich, seine resolute Schwester Emma wäre hier, um ihm die Arbeit abzunehmen. Oder wenigstens Heath, dessen sanfte und zugleich eindringliche Art auf Frauen eine entwaffnende Wirkung hatte. Sogar Jane wäre ihm jetzt eine große Hilfe gewesen, selbst wenn sie ihn anschließend wieder ausschimpfen würde. Grayson musste sich eingestehen, dass er in persönlichen Angelegenheiten so viel Feingefühl besaß wie ein Rammbock. Doch es gab nun mal bestimmte Themen, bei denen man seinen Standpunkt vertreten musste, ohne von ihm abzuweichen. Er war jetzt das Oberhaupt der Familie, ob es ihm gefiel oder nicht. Was er sagte, wurde getan.
Warum nur musste sich Chloe ihm bei jeder Gelegenheit widersetzen? Was sollte er nur mit ihr machen?
Als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, hatte er noch immer keine Ahnung, wie er das Gespräch beginnen sollte.
Sie saß an ihrem Schreibtisch, das pechschwarze Haar lag über ihre Schultern, als hätte ein Rabe seine Schwingen ausgebreitet. Chloe sah jung und verwundbar aus, zugleich aber auch erwachsen. Als sie ihn hereinkommen hörte, versteifte sie sich unwillkürlich, drehte sich indes nicht zu ihm um. „Ah, mein Gefängniswärter ist da", sagte sie. „Stellen Sie Wasser und Brot bitte an der Tür ab."
„Chloe."
„Grayson."
Er setzte zum Reden an, hielt dann aber inne, als er die Skizze von Brandon auf ihrem Tisch bemerkte. Er war das Nesthäkchen der Familie gewesen, außerdem Chloes eifriger Fürsprecher sowie ihr Komplize in der Kindheit, wenn sie beide Streiche ausheckten. Sein Tod hatte sie zu einer Zeit getroffen, als sie sich auf eine Eheschließung hätte vorbereiten sollen.
Wieder verspürte Grayson Schuldgefühle, weil er nicht bei seinem Vater und Chloe gewesen war, als die Nachricht von Brandons Tod eintraf. Monatelang hatte Royden Boscastle seinen ältesten Sohn angefleht, für eine Woche auf den Landsitz der Familie zu kommen, um zu jagen und sich mit alten Freunden zu treffen. Grayson hatte die Einladung immer wieder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass die verbleibende Zeit für ein Wiedersehen immer knapper wurde.
Hatte Royden Boscastle seinen Tod vorausgeahnt? Grayson überlegte, ob sein Vater wohl weitergelebt hätte, wäre er an seiner Seite gewesen, um ihm Trost zu spenden, als der Mord an Brandon bekannt geworden war. Chloe war bei Erhalt des Briefes mit ihrem Vater allein gewesen, und sie hatte Royden hilflos und verängstigt in den Armen gehalten, als der verstarb. Schock und Trauer hatten sie nachhaltig verändert.
„Was hast du dir heute nur gedacht?", fragte er sie leise.
„Ich will nicht darüber reden."
Er nahm auf der äußersten Kante ihres Liegesofas Platz. „ Chloe, dreh dich um und sprich mit mir. Wir werden darüber reden."
Erst nach einem kurzen Zögern drehte sie sich tatsächlich um. Ihre blauen Augen strahlten eisige Kälte aus und ließen erkennen, wie tief verletzt sie sich fühlte. Grayson seufzte, da ihn der Anblick schmerzte.
„Was hast du anderes von mir erwartet?", fragte er verärgert. „Bei Gott, er war ein Soldat."
„Wenn ich einen Duke geküsst hätte, wärst du dann etwa einverstanden gewesen?"
„Natürlich nicht", gab er zurück. „Aber wenn es jemand von deinem Stand gewesen wäre und wenn du ihn wirklich lieben würdest, dann hätte eine Hochzeit denkbar sein können. Ich habe ihn ja nie zuvor zu Gesicht bekommen."
Sie biss sich auf die Unterlippe. „Und was wolltest du damit bezwecken, Jane mitzubringen, damit sie auch noch Augenzeugin meiner Schmach wird?"
„Nur damit du es weißt: Jane hat sich sogar schützend vor dich gestellt."
„Jemand sollte sich vor sie stellen, damit sie vor dir geschützt wird", platzte es aus ihr heraus. Mittlerweile glühten ihre Augen vor Wut.
Grayson atmete tief durch, bis er das Gefühl hatte, auf diese Beleidigung nichts erwidern zu müssen.
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