Desiderium
Nähe.
Das leichte Summen in mir bestätigte mich nur. Schritt für Schritt kehrte die Anziehung zurück. Dieses Mal wollte sie, dass ich nicht hier blieb, sondern schnellst möglich nach Paris zurückkehrte.
Als ich wieder zurückgekehrt war, wurde ich in dem dunklen Keller bereits erwartet. Pépé stand in der Tür. Seine Miene war nur schwer zu deuten, während ich mich auf ihn zu bewegte.
»Was machst du hier?«, fragte ich ihn.
»Denkst du, ich bemerke es nicht, wenn sich jemand in meinem Haus aufhält? Ich habe auf dich gewartet.«
» Das erklärt es.« Während ich vor ihm stand, wurde mir bewusst, dass mein Körper so ruhig war wie seit Tagen nicht mehr. Das war also die Wirkung der Welt der Sehnsüchte.
»Wieso bist du hier, Cassim?«, fragte mein Großvater, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Mir ging es nicht gut, ich hatte Alpträume. und …«
»Also habe ich mich nicht geirrt, gut.« Mein Großvater machte eine ausladende Handbewegung in Richtung des Flurs hinter ihm. »Ich wü rde mich gerne mit dir unterhalten.«
»Eigentlich möchte ich mich etwas hinlegen.«
»Das verstehe ich, aber es wird nicht allzu lange dauern. Ich möchte, dass du vorbereitet bist, wenn du das nächste Mal durch das Portal gehen wirst.«
Das nächste Mal. Es würde nicht mein einziger Besuch bleiben, was meinen Herzschlag besc hleunigte. Offenbar musste ich meine Liste erweitern: Ich empfand Pflichtbewusstsein, Schmerz, Müdigkeit, etwas Neugierde und Sehnsucht – nach was auch immer.
»Also«, begann mein Großvater, kaum dass wir im Arbeitszimmer waren. »Was hast du gesehen?«
Grau, Bäume, Pferde, Latino, Jungen mit Stimmungsschwankungen und gewöhnungsbedürftigen Kleidungsstil. »Nicht viel, das Meiste war Natur. Schätzungsweise Greenpeace- Sehnsüchte.«
Er verzog kein Gesicht. »Hast du etwas gesehen, dass dir bekannt vo rkam? Beispielsweise eine Brücke, die du aus Paris kennst?«
»Irgendwo sah mal etwas aus wie im Parc Montsouris, aber für mich sehen sowieso beinahe alle Bäume oder Blumen gleich aus.« Mit Ausnahme von Tannenbäumen, Eichen, Tulpen, Rosen und Lilien. Und natürlich Gänseblümchen.
»Hast du jemanden gesehen, der menschlich aussah?«
Jaron und Darragh . Aber etwas hielt mich davon ab, ihm von ihnen zu erzählen. »Nur aus der Ferne. Sie wirkten auf mich nicht, als seien sie sonderlich anders als die Gestalten, denen man hier begegnen kann.«
Daraufhin erzählte pépé mir von den unterschiedlichen menschlich aussehenden Sehnsüchten. Zunächst von den Sehnsuchtszombies, die nur für ihre Bestimmung lebten. Danielle hatte ihm einmal von einem besonders deutlichen Beispiel erzählt, wo sich ein Mann immer wieder von einem Hausdach gestürzt hatte – Todessehnsucht. Ausführlicher wurde er bei den Sehnsüchten mit einem Maß an freiem Willen oder sogar mit recht großem.
»Letztere sind sehr selten. Ich kann mich nicht erinnern, dass in den letzten 100 Jahren eine derart starke Sehnsucht gefunden wurde. So weit ich weiß, können nur die Sehnsüchte von Auserwählten derart unabhängig sein. Sehnsüchte mit einem mittelm äßigen freien Willen gibt es häufiger, dazu gehören beispielsweise die Eingeweihten.«
»Es gibt Eingeweihte unter den Sehnsüchten?«, fragte ich Interesse heuchelnd, dachte dabei aber nur: Darragh. Mit Sicherheit Darragh und: Ich brauche ein Bett.
» Wenige. Sie werden durch Auserwählte überprüft und wenn sich zeigt, dass sie nicht in ihrer Funktion als Sehnsucht beeinträchtigt werden und dass sie mit der Wahrheit klarkommen können, werden sie eingeweiht. Kontakt halten wir für gewöhnlich über die Auserwählten, aber wenn es wie in den letzten Jahren niemanden gibt, müssen wir zu weniger sicheren Mitteln greifen. Es kommt vor, dass wir Nachrichten durch das Portal werfen müssen, aber dabei sind schon einige verloren gegangen, weil sie nicht weit genug landen. Sehnsüchte können nicht näher als fünf Meter an das Portal, da es sie sonst in unsere Welt zieht. Hier können sie nicht überleben.«
Also: Wenn sich die eingeweihten Sehnsüchte nicht benahmen, konnte ich ihnen damit drohen, sie nach Paris zu schicken!
»Werde ich Sehnsüchte überprüfen müssen, ob sie als Eingeweihte in Frage kommen?«, fragte ich.
»Nein, im Augenblick benötigen wir niemand Neuen. Ein paar der aktuellen Eingeweihten wirst du kennenlernen – morgen.«
Ich unterdrückte ein Gähnen. Der Anflug von Neugierde, den ich vo rhin noch verspürt hatte, war
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