Desiderium
doch in diesem Buch nachsehen könntest, ob nicht einer von ihnen ein Eingeweihter ist.« Der aufkommende ärgerliche Unterton entging mir dabei nicht. Ich wusste, wie sehr es sie nervte, dass sie selbst kaum etwas tun konnte. Sie war auf das angewiesen, das ich ihr erzählte.
»Klar, das werde ich wahrscheinlich sogar machen, wenn ich heute Na chmittag noch Zeit haben sollte.«
»Alles klar. Sagst du mir Bescheid, wenn sich noch etwas Neues erg eben sollte?«
Aus Gewohnheit setzte ich ein gekünsteltes Lächeln auf: »Mit wem sollte ich sonst darüber reden? Oder: Mit wem sollte ich sonst darüber reden, der nicht der festen Meinung ist, dass ihr Leben durch mich als Auserwählte einen Sinn bekommen hat?«
»Siehst du, wir haben beide was davon.« Ich hörte Alice am anderen Ende der Leitung lachen.
Es klopfte an der Tür zu meinem Zimmer.
»Warte einen Moment!«, bat ich Alice, ehe ich mit einem »Ja« darauf wartete, dass sich die Tür öffnete.
Henry steckte den Kopf herein, das Gesicht eingefallen und das L ächeln ebenso wenig überzeugend wie mein eigenes. »Mademoiselle Durands?« Ich würde mich nie daran gewöhnen, dass er mich nicht beim Vornamen nannte. »Ich soll Sie bitten, in den Keller zu gehen. Man wartet auf Sie, um sie zur offiziellen Einführung zu begleiten.«
Wieder einmal dachte ich , dass die Bediensteten der Queen sie nicht anders behandeln würden als Henry meine Familie – was mir vom ersten Augenblick lang seltsam und viel zu altmodisch vorgekommen war.
»In Ordnung. Danke.«
Kaum hatte Henry die Tür wieder geschlossen, griff ich den Hörer.
»Ich hab es gehört«, sagte Alice, bevor ich auch nur einen Ton von mir geben konnte. »Du musst los. Viel Erfolg. Oder so.«
»Danke«, wiederholte ich und legte auf.
Ich rappelte mich auf und warf einen Blick durch den Raum, ob es etwas gab, das ich in die Welt der Sehnsüchte mitnehmen konnte oder musste. Die Welt der Sehnsüchte … Etwas zu lang blieb ich an diesem Begriff hängen. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, dass ich mich darauf freute, noch einmal dorthin zu gehen.
Wahrscheinlich habe ich zu viel über die Anziehung gehört , sagte ich mir, schnappte mir eine dünne Jacke und verließ mein Zimmer.
Entgegen meiner Vorstellung begegnete ich in der Eingangshalle ledi glich Henry, der Ariana dabei half, die Einkäufe hereinzutragen – dem Inhalt der Tüten zu Folge würde es am Abend viel Gemüse geben.
Im Keller wurde ich von denselben Halloween- Accessoires wie am Vortag erwartet. Zwei der größten Spinnennetze waren mittlerweile bewohnt. Eine der Spinnen mit besonders langen, dünnen Beinen war gerade damit beschäftigt, einen Faden zu spinnen.
Ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, ging ich auf die Holztüre zu, hinter der sich das Portal befand. Die vorfreudeähnliche Reaktion meines Körpers kehrte zurück, bis ich auf einen Mann traf, der offenbar ebenfalls ein Eingeweihter war:
Monsieur Chevalier.
Noemies aktueller und mein ehemaliger Geigenlehrer trug eine schwarze Jeans und ein einfaches Hemd. Mit seinen fünfunddreißig Jahren passte er nicht in das Bild, das ich mir von den übrigen Eingeweihten gemacht hatte – alt, graue oder weiße Haare und eine Miene als würden sie nur an die gute, alte Zeit denken. Mit seinen heute zum Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren hatte er mich schon immer an eine Figur aus Harry Potter erinnert. Lediglich die Haarfarbe – hellbraun – passte nicht dazu.
Als er mich wie immer mit einem Lächeln begrüßte, entging mir seine Nervosität nicht. In der Zeit, als ich noch ein Instrument gespielt hatte, hatte ich ihn als einen Mann erlebt, der lediglich hektisch wurde, wenn man das ausgewählte Stück auch nach dem tausendsten Versuch noch nicht verstand. An diesem Tag waren Schweißperlen auf seiner Stirn und ein Blick auf mich genügte, um den Schlüssel aus den zitternden Händen fallen zu lassen.
»Monsieur Chevalier«, begrüßte ich ihn mit freun dlicher Stimme, während ich mich hinkniete, um den Schlüssel für ihn aufzuheben.
Sollte keiner sagen, dass es bei mir an guter Erziehung gemangelt hatte.
Ein weiteres Lächeln, eine weitere Schweißperle, die sich in seinen Augenbrauen verfing.
»Sie waren bisher nie hier unten, oder?«, fragte ich ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Mein Vater war bereits ein Eingeweihter, weshalb man mir die Aufgabe anvertraute, dich und Noemie zu beobachten, obwohl ich so jung war. Beim Geigenunterricht sollte
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