Desiderium
verschwunden. »Morgen?«
»Morgen wirst du noch einmal hinübergehen, dieses Mal offiziell. E iner der Eingeweihten wird dich dabei begleiten. Dort werdet ihr mit den anderen besprechen, wie es weitergehen wird. Leider werde ich selbst wahrscheinlich nicht dabei sein können.«
»In Ordnung«, murmelte ich. Inzwischen war ich so müde, dass mir selbst dieses Thema egal war, aber dann fiel mir noch eine Frage ein, auf die ich eine Antwort brauchte: » Gibt es ein Zeitlimit für mich?«
»Sogar Auserwählte können nicht die ganze Zeit dort bleiben. Jetzt zu Anfang wirst du nicht mehr als eine halbe Stunde schaffen. Je mehr Training du hast, desto länger wirst du bleiben können. Aber die Grenze liegt bei sechs Stunden. Wenn du ein kleines bisschen länger bleibst, ist das u nangenehm, aber nicht weltbewegend. Sollte es länger dauern, kann es zu dauerhaften Schäden oder sogar zum Tod führen.«
Und auch ziehen sich Tod und Schmerz wie ein roter Faden durch die Familiengeschichte. »Ist bisher jemand gestorben, weil er oder sie zu lange geblieben ist?«
»Gegen Ende des 30- jährigen Krieges ist ein Auserwählter hinüber gegangen . Da er Angst hatte, zurückzukehren und den Frieden genoss, blieb er deutlich länger. Bei ihm war es sehr knapp. Bei seiner Rückkehr konnte er nicht mehr sprechen und sein Immunsystem war dahin. Die Pest brachte ihn noch schneller um als die vielen anderen Opfer zu dieser Zeit. Direkt in der Welt der Sehnsüchte gestorben ist, so weit ich weiß, niemand.«
»Okay, keine Nickerchen in der anderen Welt, hab ich verstanden. Apropos Nickerchen: Kann ich jetzt gehen?«
»Eins noch, etwas, das du niemals vergessen darfst: Du hast heute das erste Mal die Macht der Sehnsucht gespürt, deshalb wird es nicht mehr lange dauern, bis du lernen wirst, sie zu nutzen. Verlockende, weltbewegende Kräfte. Aber du darfst niemals vergessen, sie nur in Maßen einzusetzen. Bisher hat es niemandem gut getan, zu versuchen, sich mit Gott auf eine Stufe zu stellen«, riet er mir ernst.
»Das hatte ich nicht vor.«
»Das sagst du jetzt. Das haben auch schon andere vor dir gesagt. Merk es dir einfach!.«
»Okay«, wiederholte ich. »Versprochen .«
Pépé nickte. »Gut, dann: Schlaf gut.«
6. Formalitäten für Weicheier
Am nächsten Morgen rief ich Alice an .
»Jaron und Darragh. Ist das alles? Haben sich die beiden nicht näher vorgestellt?«, hörte ich ihre enttäuschte Stimme am Telefon.
»Wenn ich sie noch einmal sehe, werde ich sie bitten, sich Schilder mit ihrem Lebenslauf umzuhängen, in Ordnung?«
Alice schnaubte. » Jetzt tu nicht so als sei ich doof! Es sind die ersten menschlich aussehenden Sehnsüchte, die du gesehen hast – das sind zwei mehr als ich jemals sehen werde. Da kann ich doch ein bisschen mehr erwarten.«
»Ich kann dir aber nichts Näheres über sie berichten, nur von ihrem Aussehen und ihrem Verhalten.«
»Dann wiederhol das bitte noch mal.«
Auch wenn ich nicht genau wusste, warum, tat ich ihr den Gefallen. Jedes kleine Detail beschrieb ich ihr – vom ersten Schatten, den sie geworfen hatten, bis hin zu Jarons letzter Haarspitze.
»Also: Darragh hat Französisch gesprochen, weil die Sehnsüchte es durch deine Vorgänger gewöhnt sind«, dachte sie laut nach. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie sie auf ihrem Sofa saß und den Geräuschen nach mit einem Fläschchen Nagellack hantierte.
Ich nickte. Dann fiel mir auf, dass sie das nicht sehen konnte. »Ja, ich denke, das ist der Grund.«
»Jaron hingegen hat Deutsch mit dir gesprochen«, führte sie ihren Gedanken fort. »Meinst du, das hat er absichtlich gemacht?«
» Wie denn? Er konnte nicht auf den ersten Blick sehen, wer ich bin und dass Deutsch meine Muttersprache ist. Mal ganz abgesehen davon, dass er gegen Ende nicht gerade den Eindruck machte, als wolle er mir einen Gefallen tun. Eher als würde er sich wünschen, ich wäre niemals geboren. Oder würde qualvoll sterben – verbrennen beispielsweise.«
»Aber wenn es weder die allgemeine Beeinflussung durch mehrere Generationen Auserwählter noch sein freier Wille war, was dann?«
»Ich habe keine Ahnung. Da ich ihn wahrscheinlich auch nicht mehr sehen werde – schließlich gibt es genügend andere Sehnsüchte – int eressiert es mich nicht sonderlich.«
Alice lachte heiser. »Ja, weil dich ja sonst immer alles brennend int eressiert. Ach nein, ich hab vergessen, du wirst neugierig, sobald es um Sehnsucht geht. Dabei fällt mir ein, dass du
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