Desiderium
Person, die ihn erschaffen hatte, hatte ausnahmsweise andere Pläne mit ihm.
Ich runzelte die Stirn, als Jaron sich verkrampfte. Er kniff die Augen zusammen und ballte die Faust, er schien zu zittern. Innerhalb eines Sekundenbruchteils zuckten verschiedene Ausdrücke über sein Gesicht, sein Rückgrat bog sich durch.
Dann erkannte ich, was er tat: Jaron wehrte sich gegen den Willen seines Verbundenen. Noch nie hatte ich jemanden gesehen, der das tat – dass jemand überhaupt die Kraft dazu besaß, hatte ich nie gehört. Aber ich wusste, dass er verlor.
Ausdruckslos sah er mich an, als er antwortete: »Es stand vorhin bereits fest, dass ich heute Nachmittag zu Lillian gehe. Ich kann dich nicht begleiten.«
» Wenn mein Großvater Darraghs Bericht bekommt, wird er fragen, warum du mich nicht begleitet hast? Er wird glauben, du würdest deine Pflichten mir gegenüber vernachlässigen«, behauptete ich. Ich war mir nicht mal sicher, ob Darragh, selbst wenn es zu seinem Job gehörte, jemals einen Bericht geschrieben hatte.
»Ich ve rnachlässige nichts«, stieß Jaron hervor. »Sag ihm einfach die Wahrheit: Dass selbst ich nicht immer Zeit habe, dich zu begleiten. Jeder wusste, dass es zu solchen Situationen kommen würde. Ich bin dein Trainer, nicht dein Leibwächter.«
»Okay, dann viel Spaß .« Was sagte man, wenn eine Sehnsucht gezwungen wurde, sich mit seiner Modelfreundin zu treffen?
»Viel Erfolg!«, erwiderte er.
Im nächsten Moment stand er neben mir. Für gewöhnlich kam er mir nur in absoluten Ausnahmesituationen so nah. Das sonderbare Kribbeln auf meiner Haut setzte augenblicklich ein. Es schlich sich nach oben an meinen Hals und drückte mir langsam, zunächst kaum merklich die Luft ab, bis ich ihn ansah. Jaron hielt noch immer nicht inne. Nur wenige Zentimeter von meiner Wange entfernt, verharrte sein Gesicht. Sein Atem streifte mein Ohr und die empfindlichen Stellen an meinen Hals. Er schien bis unter meine Bluse zu gehen, streichelte meine Haut.
Dann verschwand das Gefühl. Jaron zog sich abrupt z urück und verschwand ohne ein weiteres Wort.
Nachdem ich Darragh auf dem Weg einen kurzen Überblick über die Situation mit der verschwundenen Zeugin und dem eingestürzten Haus verschafft hatte, hüllte er sich in Schweig en.
Er schien vollkommen auf seine Aufgabe fixiert. Die Art, wie er sich dabei benahm, schien ein weiteres Mal Jarons und meinen Verdacht zu bestätigen, dass er mit einem der Eingeweihten aus meiner Welt verbunden war. Wahrscheinlich sogar mit einem derer, die ich seit meiner Einführung kennengelernt hatte. Noch immer konnte ich mir nicht vorstellen, wie es sein musste, zu wissen, dass man von einem Unbekannten derart beeinflusst werden konnte. Dagegen war die Moral noch kompromissbereit.
Da von ihm so schnell kein Gespräch zu erwarten war, dachte ich daran, dass Jarons Verbundener das erste Mal bedeutend eingegriffen hatte Ich stellte mir vor, wie eine gesichtlose Gestalt wieder nach seiner Marionette griff. Der Puppenspieler führte ihn direkt in Lillians Arme, etwas, das Jaron nicht unglücklich machen konnte. Sein Existenzgrund hatte dadurch einen äußerst attraktiven Nebeneffekt. Aber dann sah ich seinen Versuch vor mir, sich gegen den Willen seines Verbundenen zu wehren. Dafür gab es keinen plausiblen Grund.
Schließlich verharrten meine Gedanken bei seiner letzten Geste. Es musste verrückt sein, dass diese Situation mir bei allem, was ich in den letzten Wochen erlebt hatte, am merkwürdigsten erschien. Und auch diesen Moment konnte ich mir nicht erklären.
Bei ihm wurde ich aus Nichts sonderlich schlau.
Ich verwarf die Gedanken, als ich eine Veränderung spürte. Die Luft schien dünner zu werden. Der Geruch von nasser Erde stieg mir in die Nase, obwohl es weit und breit keine gab.
Darragh hatte mich, ohne dass ich es b emerkt hatte, an den Wachen vorbei in die berüchtigte Stadt der Echos geführt.
In den Erzählungen hatte niemand übertrieben: Diese Stadt war angstei nflößend. Alles war dunkler – als würde die Sonne schwächer scheinen. Die hohe Außenmauer, mindestens fünf Meter hoch und zwei Meter dick, erinnerte mich an meine Schule. Sie trug nicht dazu bei, dass es heller wurde.
In den uneinsehbaren Ecken schien sich stets etwas zu regen. Leise Geräusche – leises Flüstern, leises Rascheln. Als ich näher herangehen wollte, verstummte und erstarrte alles. Die Gebäude waren aus Naturstein geschaffen worden, in dessen Ritzen sich das Moos
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