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Désirée

Désirée

Titel: Désirée Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annemaire Selinko
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und Talleyrand in der ersten Reihe des Gefolges. Was denkt er in diesem Augenblick, überlegte ich. Was denkt ein Mann, der sich soeben zum Kaiser der Franzosen gekrönt hat? Ich konnte den Blick von seinem starren Gesicht nicht abwenden. Jetzt – jetzt bewegte sich ein Muskel um seinen Mund, er presste die Lippen zusammen und – unterdrückte ein Gähnen. Gleichzeitig fiel sein Blick zufällig auf mich. Die halb geschlossenen Augen öffneten sich, und er lächelte zum zweiten Mal an diesem Tag. Nicht zärtlich wie vorhin, als er Josephine gekrönt hatte, sondern unbeschwert, gut aufgelegt und – ja, so wie damals. So wie damals, als wir um die Wette gelaufen waren und er mich zum Spaß gewinnen ließ. Habe ich es dir nicht vorausgesagt?, fragten seine Augen. Damals an der Hecke? Du hast mir nur nicht geglaubt! So heiß hast du dir gewünscht, dass ich aus der Armee geworfen werde, weil du aus mir einen Seidenhändler machen wolltest … Unsere Augen hielten einander noch immer fest. Da saß er – mit dem Hermelinkragen, der ihm bis zu den Ohren reichte, und der schweren Krone auf dem geschorenen Haar – und war trotzdem einen Augenblick lang derselbe wie einst. Der Herzog von Enghien, erinnerte ich mich. Und Lucien, der als Erster in die Verbannung ging, und Moreau und die anderen, bekannte und unbekannte französische Bürger, die ihm folgten.
    Ich zwang mich, meine Augen abzuwenden, und blickte erst wieder auf den Thron, als ich die Stimme des Senatspräsidenten hörte.
    Der Senatspräsident stand vor Napoleon und entrollte einen Pergamentbogen. Mit einer Hand auf der Bibel, die andere hoch erhoben, sprach ihm der Kaiser die Eidesformel nach. Seine Stimme klang klar und kalt, als ob es sich um einen Befehl handele. Napoleon I. gelobte, dem französischen Volk Religionsfreiheit und politische und bürgerliche Freiheit zu bewahren.
    Nun kehrte die Geistlichkeit zurück, um das Kaiserpaar aus dem Dom zu geleiten. Einen Augenblick lang kam Kardinal Fesch neben Napoleon zu stehen. Lachend stieß Napoleon den Onkel mit dem Zepter in die Seite. Aber das runde Gesicht des Kardinals drückte solches Entsetzen über die unbedachte Geste des Neffen aus, dass sich Napoleon achselzuckend abwandte. Bereits in der nächsten Minute rief er Joseph, der ihm noch immer die Purpurschleppe nachtrug, laut zu: »Was hätte wohl unser Herr Vater dazu gesagt, wenn er uns hier gesehen hätte?«
    Während ich hinter Murat dem Ausgang zuschritt, versuchte ich, den grünen Turban des türkischen Gesandten zu entdecken, um Etienne dadurch ausfindig zu machen. Es glückte. Etienne hatte den Mund geöffnet und schien vor Verzückung erstarrt zu sein. Er schaute noch immer seinem Kaiser nach, obwohl der bereits durch viele Rücken seinen anbetenden Blicken entzogen war.
    »Trägt der Kaiser auch nachts im Bett seine Krone?«, fragte Oscar, als ich ihn abends schlafen legte. »Nein, das glaube ich nicht«, meinte ich. »Vielleicht drückt sie ihn«, überlegte Oscar, dem Julie kürzlich eine Bärenfellmütze, die für ihn viel zu schwer ist, geschenkt hat. Ich musste hell auflachen. »Drücken? Nein, Liebling, die Kronedrückt Napoleon nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil.«
    »Marie sagt, dass viele Leute, die auf der Straße ›Vive l’Empereur‹ schreien, dafür von der Polizei bezahlt werden«, berichtete Oscar. »Ist das wahr, Mama?« »Das weiß ich nicht. Aber du darfst so etwas nicht sagen.«
    »Warum nicht?« »Weil es –« Ich biss mir auf die Lippen. Ich wollte sagen: »Weil es gefährlich ist.« Aber Oscar soll doch alles sagen, was ihm durch den Sinn geht. Andererseits verbietet der Polizeiminister den Leuten, die alles sagen, was sie denken, in Paris oder im nahen Umkreis der Hauptstadt zu wohnen. Erst kürzlich ist die Schriftstellerin Madame de Staël, die beste Freundin der Juliette Récamier, verbannt worden. »Dein Großpapa Clary war überzeugter Republikaner«, flüsterte ich plötzlich und küsste die saubere kleine Stirn meines Sohnes. »Ich habe geglaubt, er war Seidenhändler«, meinte Oscar. Zwei Stunden später tanzte ich zum ersten Mal im Leben Walzer. Schwager Joseph, Seine Kaiserliche Hoheit, gab nämlich ein großes Fest und hatte alle ausländischen Fürsten und Diplomaten eingeladen. Außerdem alle Marschälle und Etienne, weil er nun einmal Julies Bruder ist. Marie Antoinette hatte seinerzeit versucht, in Versailles den Wiener Walzer einzuführen. Aber nur die ganz feinen Leute, die von ihr empfangen

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