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Desperation

Desperation

Titel: Desperation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ausleihen, Johnny?«
Sie streckte die Hand aus. Er sah zweifelnd auf sie hinab,
doch dann gab er ihr die Lampe. Sie bedankte sich und ging
zur Tür.
»O Mann - super!« sagte David leise, und da blieb sie stehen.
Der Junge hatte seine Taschenlampe auf einen Abschnitt
der Wand gerichtet, wo die Kacheln noch weitgehend unversehrt waren. Jemand hatte mit verschiedenen Leuchtfarben
einen prächtigen, verschnörkelten Fisch darauf gemalt. Es
handelte sich um eines jener halb mythologischen Lebewesen
mit Flossenschwanz, wie man sie manchmal über den Wellenkämmen sehr alter Seekarten finden konnte. Aber der Bursche, der da über dem kaputten TowelMaster-Handtuchspender an der Wand schwamm, hatte nichts Furchteinflößendes
oder Seeungeheuerhaftes an sich; mit seinen blauen BettyBoop-Augen, den roten Kiemen und der gelben Rückenflosse
hatte er etwas Niedliches und Fröhliches - in der stickigen,
nach Alkohol riechenden Dunkelheit wirkte der Fisch fast wie
ein Wunder. Nur eine Kachel war heruntergefallen, so daß der
untere Teil der Schwanzflosse fehlte.
»Mr. Billingsley, haben Sie -«
»Ja, ja«, sagte er trotzig und verlegen zugleich. »Ich hab ihn
gemalt.« Er sah Marinville an. »Wahrscheinlich war ich zu
dem Zeitpunkt betrunken.«
Mary blieb an der Tür stehen und wappnete sich für Marinvilles Antwort. Er überraschte sie. »Ich hab im Vollrausch
auch ein paar Fische gemalt«, sagte er. »Zwar eher mit Worten
als mit Buntstiften, ich denke aber, das Prinzip ist dasselbe.
Nicht schlecht, Billingsley. Aber warum hier? Warum ausgerechnet hier?«
»Weil es mir hier gefällt«, sagte er mit beachtlicher Würde.
»Besonders seit die Jungs die Kurve gekratzt haben. Nicht,
daß sie uns hier hinten groß auf die Nerven gegangen wären;
sie waren mehr an dem Balkon interessiert. Ich nehme an, Sie
finden das verrückt, aber das ist mir gleich. Hierher komme
ich mit meinen Freunden, seit ich im Ruhestand und nicht
mehr im Stadtrat bin. Ich freue mich auf die Abende, die ich
mit ihnen verbringe. Es ist nur ein altes Kino, Ratten hausen
hier und die Sitze sind verschimmelt, na und? Es ist unsere Sache, oder nicht? Einzig und allein unsere Sache. Aber ich
nehme an, jetzt sind alle tot. Dick Onslo, Tom Kincaid, Cash
Lancaster. Meine alten Kumpel.« Er stieß einen rauhen, überraschenden Schrei aus, wie das Kreischen eines Raben. Mary
zuckte zusammen.
»Mr. Billingsley?« Das war David. Der alte Mann sah ihn
an. »Glauben Sie, daß er alle in der Stadt getötet hat?«
»Das ist verrückt!« sagte Marinville.
Ralph zog an seinem Arm wie an der Signalkordel im Bus.
»Still.«
Billingsley sah immer noch David an und rieb sich die Haut
unter seinen Augen mit langen, verkrümmten Fingern. »Ich
halte es für möglich«, sagte er und sah Marinville wieder
einen Moment an. »Ich glaube, er dürfte es zumindest versucht haben.«
»Von wieviel Menschen reden wir?« fragte Ralph.
»In Desperation? Hundertneunzig, vielleicht zweihundert.
Mit den neuen Minenarbeitern, die hinzugekommen sind,
möglicherweise fünfzig oder sechzig mehr. Aber es ist schwer
zu sagen, wie viele hier gewesen sind und wie viele oben in
der Mine.«
»In der Mine?« fragte Mary.
»In der China-Mine. Die sie wieder aufmachen. Wegen dem
Kupfer.«
»Sagen Sie mir nicht, daß ein Mann, selbst ein Bär wie er,
durch die Stadt gegangen ist und zweihundert Menschen umgebracht hat«, sagte Marinville, »denn das, ich bitte sehr um
Verzeihung, glaube ich nicht. Ich meine, ich glaube wie alle
anderen an den amerikanischen Unternehmungsgeist, aber
das ist einfach verrückt.«
»Nun, vielleicht hat er beim ersten Durchgang ein paar
übersehen«, sagte Mary. »Haben Sie nicht gesagt, daß er einen
Mann überfahren hat, als er Sie herbrachte? Daß er ihn überfahren und getötet hat?«
Marinville drehte sich um und betrachtete sie mit einem gewichtigen Stirnrunzeln. »Ich dachte, Sie müßten pinkeln.«
»Ich kann es noch aushalten, ich hab gute Nieren. Es stimmt
doch, oder nicht? Er hat jemanden auf der Straße überfahren.
Das haben Sie gesagt.«
»Ja, richtig. Rancourt nannte er ihn. Billy Rancourt.«
»O Gott.« Billingsley schloß die Augen.
»Haben Sie ihn gekannt?« fragte Ralph.
»Mister, in einer Stadt dieser Größe kennt jeder jeden. SU
hat im Lebensmittelladen gearbeitet und in seiner Freizeit
Haare geschnitten.«
»Ja, gut, Entragian hat diesen Rancourt auf der Straße überfahren - wie einen Hund überfahren. Zugegeben.« Marinville
hörte sich aufgebracht an,

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