Desperation
ein
hohles Klicken.
Die beiden Stufen zum Vorführraum hinunter bewahrten
Steve mit Sicherheit vor einem weiteren Loch in seinem ohnehin schon perforierten Fell und retteten ihm möglicherweise das Leben. Er kippte nach vorne wie ein Mann, der sich
in der Zahl der Stufen einer Treppe verschätzt hat, und alle
drei Kugeln pfiffen über seinen Kopf hinweg. Eine bohrte sich
rechts von Cynthia in den Türrahmen; ein Regen von Splittern
ergoß sich über ihre exotische Frisur.
Audrey stieß einen wimmernden Schrei der Frustration
aus. Sie warf die leere Waffe nach Steve, der sich gleichzeitig
duckte und eine Hand hob, um sie abzuwehren. Dann wandte
sie sich wieder zu dem kauernden Jungen und würgte ihn mit
beiden Händen, während sie ihn wütend wie eine Puppe hin
und her schüttelte. Plötzlich hörten Davids Hände auf zu
trommeln und lagen reglos wie tote Seesterne auf dem Stoff
seiner Jeans.
5
»Angst«, krächzte Billingsley. Es war, soweit Mary das sagen
konnte, das letzte Wort, das er herausbrachte. Er sah mit
einem Blick zu ihr auf, in dem zugleich wilder Schrecken und
Verwirrung lagen. Er versuchte, noch etwas zu sagen, brachte
aber nur ein klägliches Röcheln zustande.
»Haben Sie keine Angst, Tom. Ich bin bei Ihnen.«
»Ah. Ah.« Sein Blick schweifte von einer Seite auf die andere und kam wieder auf ihrem Gesicht zu ruhen, wo er zu erstarren schien. Er holte tief Luft, atmete aus, holte weniger tief
Luft, atmete aus … und holte keine Luft mehr.
»Tom?«
Außer einem Windstoß und dem harten Prasseln des Sandes draußen war nichts zu hören.
»Tom!«
Sie schüttelte ihn. Sein Kopf rollte schlaff von einer Seite auf
die andere, aber sein Blick blieb auf sie gerichtet, so daß ihr
kalt wurde; es war so, wie die Augen mancher Porträtgemälde einem zu folgen schienen, egal wo man sich in dem betreffenden Zimmer befand. Irgendwo
- in diesem Gebäude,
aber trotzdem hörte es sich sehr weit entfernt an -, konnte sie
Marinvilles Roadie nach David rufen hören. Das HippieMädchen, das der Roadie mitgenommen hatte, rief ebenfalls.
Sie überlegte sich, daß sie zu ihnen gehen und ihnen bei der
Suche nach David und Audrey helfen sollte, wollte Tom aber
nicht allein lassen, bis sie ganz sicher sein konnte, daß er tot
war. Sie war ziemlich sicher, ja, aber es war ganz bestimmt
nicht wie im Fernsehen, wo man immer genau wußte »Hilfe?«
Obwohl man die Stimme im abklingenden Wind kaum
hören konnte - so schwach war sie -, zuckte Mary doch zusammen und nahm eine Hand vor den Mund, um einen
Schrei zu unterdrücken.
»Hilfe! Ist da jemand? Bitte helfen Sie mir … ich bin verletzt!«
Eine Frauenstimme. Ellen Carvers Stimme? Herrgott, war
sie es? Obwohl sie nur kurze Zeit in der Gesellschaft von David Carvers Mutter verbracht hatte, war Mary fast im selben
Moment, als ihr der Gedanke kam, überzeugt, daß sie recht
hatte. Sie sprang auf die Füße und warf noch einen raschen
Blick auf das verzerrte Gesicht und die starren Augen des armen Tom Billingsley (tot, er mußte tot sein, ganz sicher konnte
kein Lebender so schrecklich dreinschauen und so reglos bleiben). Ihre Beine waren eingeschlafen, und sie bemühte sich,
das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
»Bitte«, stöhnte die Stimme draußen. Sie kam aus der Gasse
hinter dem Kino.
»Ellen?« fragte sie und wünschte sich plötzlich, sie könnte
ihre Stimme verstellen wie ein Bauchredner. Es schien, als
könnte sie niemandem mehr vertrauen, nicht einmal einer
verletzten, verängstigten Frau. »Ellen, sind Sie das?«
»Mary!« Jetzt viel näher. »Ja, ich bin es, Ellen. Sie sind doch
Mary, oder?«
Mary machte den Mund auf und wieder zu. Das war Ellen
Carver da draußen, sie wußte es, aber …
»Geht es David gut?« fragte die Frau draußen im Dunkeln
und unterdrückte ein Schluchzen. »Bitte sagen Sie, daß es so
‘ ist.«
»Soweit ich weiß, ja.« Mary ging zu dem zerbrochenen Fenster, um die Blutlache des Pumas herum, und sah hinaus. Ellen Carver stand da, und sie sah nicht gut aus. Sie beugte sich
über ihren linken Arm, den sie mit der rechten an die Brust
drückte. Was Mary von ihrem Gesicht erkennen konnte, war
kalkweiß. Blut rann ihr von der Unterlippe und aus einem
Nasenloch. Sie sah mit Augen zu Mary auf, die so dunkel und
verzweifelt wirkten, daß sie kaum etwas Menschliches hatten.
»Wie konnten Sie Entragian entkommen?« fragte Mary.
»Gar nicht. Er ist einfach … gestorben. Hat überall geblutet
und ist gestorben. Er fuhr mit mir in seinem Auto - um
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