Dessen, S
nächsten Morgen geblieben und hatte sich um Isby gekümmert. Als ich am späten Vormittag in die Küche kam, war sie gerade gegangen. Heidi saß mit dem immer noch fest eingewickelten Baby auf dem Arm in der Küche und wirkte so ausgeruht wie seit Wochen nicht mehr.
»Diese Frau«, sagte sie – statt Hallo, »hat Wunder vollbracht.«
»Wirklich?«
Sie nickte. »Wir haben heute Morgen nur drei Stunden geredet, aber ich weiß jetzt schon hundert Prozent mehr als gestern. War dir klar, dass ein Baby sich sicherer fühlt und nicht so unruhig ist, wenn man es fest einwickelt?«
»Nein«, erwiderte ich. »Aber es scheint tatsächlich zu funktionieren.«
»Außerdem hat sie mir geholfen, die Matratze im Kinderbettchen zu erhöhen, wodurch Isby nicht mehr so leicht Blähungen bekommt, und mir geraten, eine von diesen Wippschaukeln zu kaufen, damit sie leichter einschläft. Und sie hatte super Ratschläge, was gegen wunde Brustwarzen hilft.«
Ich zuckte peinlich berührt zusammen. »Heidi. Bitte.«
»Tut mir leid.« Sie wedelte die freie Hand entschuldigend in meine Richtung. »Auf jeden Fall bin ich dir unendlich dankbar, dass du sie geholt hast. Sie hat mir sogar angeboten, noch einmal vorbeizukommen, wenn ich Hilfe brauche, aber ich weiß nicht … Letzte Nacht … war einfach anders. Wirklich seltsam. Keine Ahnung, was passiert ist. Ich war sooo müde …«
»Schon okay«, ging ich dazwischen, um zu viel Pathos und Gefühl zu vermeiden. »Freut mich, dass es dir besser geht.«
»Ja, es geht mir besser.« Sie senkte den Kopf, betrachtete Isby. »Absolut.«
Seit diesem Tag war Heidi insgesamt in besserer Stimmung. Und Isby schlief mehr, was für uns alle gut war.Mrs Stock war wohl noch einige Male vorbeigekommen, aber ich verpasste sie immer. Nach ihren Besuchen merkte ich Heidi aber besonders deutlich an, dass sie zufriedener war, entspannter.
Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter, die nach wie vor über Laura schimpfte und darüber, wie diese Schreckschraube meinem Bruder sämtliche Lebensfreude raubte, eine myelinhaltige Zelle nach der anderen aussaugte. »Aber«, meinte ich schließlich. »Er scheint sie wirklich sehr zu mögen.«
»Dein Bruder mag jeden! Das war schon immer seine größte, fatalste Schwäche.« Erneuter schwerer Seufzer. »Du wirst es sofort merken, Auden, wenn du sie persönlich kennenlernst. Sie ist einfach …«
In dem Moment blickte ich zufällig aus dem Fenster und sah, wie ein silbermetallicfarbener Honda in unsere Auffahrt einbog. »Da«, vollendete ich den Satz meiner Mutter. »Ich höre besser auf zu telefonieren.«
»Alles Gute!«, murmelte sie düster. »Ruf mich später noch mal an.«
Was ich ihr versprach. Dann klappte ich mein Handy zusammen und ging hinaus auf den Flur. Im selben Moment rief Dad von unten, dass Hollis da sei.
»Und?«, meinte Heidi zu Thisbe. »Bereit, deinen großen Bruder kennenzulernen?« Sie bückte sich, um Thisbes Gurt loszuschnallen, nahm sie auf den Arm. Zu dritt standen wir am oberen Treppenabsatz, als mein Vater die Haustür öffnete.
Hollis stieg gerade aus. Obwohl er mehr als zwei Jahre weg gewesen war, sah er eigentlich aus wie immer. Einbisschen dünner vielleicht, die Haare ein bisschen zotteliger. Nachdem Laura sich aus dem Beifahrersitz geschält hatte, beschlich mich für einen Moment das eigenartige Gefühl, dass sie ein vertrauter Mensch war, obwohl ich zunächst nicht hätte erklären können, warum. Da sog Heidi plötzlich scharf die Luft ein.
»Meine Güte!«, raunte sie. »Laura sieht aus wie eure Mutter.«
Und sie hatte recht. Das gleiche lange, dunkle Haar, die gleichen dunklen Klamotten, die gleiche ultrablasse Haut. Laura war ein wenig kleiner und kurviger. Trotzdem ähnelten sie sich auf verblüffende Weise. Und je näher die beiden nun kamen, umso unheimlicher wurde mir das Ganze.
»Da ist er ja!« Mein Vater trat über die Schwelle, um Hollis zu umarmen. »Der Weltreisende kehrt zurück!«
»Schau sich einer den stolzen, frischgebackenen Papa an! Wo ist das gute Stück?« Hollis grinste.
»Hier.« Heidi ging die Treppe hinunter. Ich zwang mich, ihr zu folgen. Gleichzeitig betrat auch Laura das Haus, nahm die Sonnenbrille ab, klappte sie zusammen. Ihre Augen waren dunkel, wie die meiner Mutter. »Das ist Thisbe.«
Hollis streckte sofort die Arme aus, um das Baby zu nehmen, hob es hoch über seinen Kopf. Isby schaute zu ihm hinunter, als wüsste sie nicht, ob sie anfangen sollte zu weinen oder nicht. »Ach du
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