Deus X
Tratsch und Klatsch unseres sterbenden globalen Dorfes, wie
sie von der Konstellation der Entitäten im elektronischen Innern
wahrgenommen werden.
Ich hörte sie nicht als Stimmen, aber ich empfing das
unruhige Flackern ihrer unharmonischen Musik, ein Gemurmel von
Zahlenreihen, digitales Rascheln, Klingeln und Pfeifen und
metallisches, insektenhaftes Gezirpe.
Elektronische Geister, die in einer virtuellen Maschine plappernd
Datenpakete austauschten.
Ich widerstand dem Impuls, mir die Dreadcap
herunterzureißen, schloß die Augen vor dem Chaos und
genoß die vollkommene Schwärze. Das ist nicht real, sagte
ich mir. Na ja, nicht ganz. Hol tief Luft, Mann, mach dann die Augen
auf und sieh es als das, was es ist, eine Simulation, ein Interface,
ein Pixelmuster. Konzentrier dich auf den Vordergrund. Betrachte
alles mit Argwohn, wenn es sein muß.
Ich holte tief Luft. Ich versuchte meine Wahrnehmung auf die
kinästhetische Rückmeldung meines eigenen Fleisches zu
konzentrieren. Nicht real. Nicht wirklich hier.
Ich atmete aus und öffnete die Augen. Besser. Licht und Ton
strudelten und flimmerten überall um mich herum, aber ich
mußte nicht wirklich dort sein, he, Schluß jetzt
mit dem Kraut, und die wirkliche Welt sah gar nicht so anders aus,
stimmt’s?… Ja, so ging es, stell’s dir so vor, als
würdest du dir ‘ne volle Ladung elektronisches Sakrament
reinziehen.
Einatmen. Anhalten. Ausatmen.
Okay. Ich kam damit klar. Ich konnte drinbleiben.
»Ich rufe dich, Pierre De Leone!« rief ich in den
Wirbelwind. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des
Software-Geistes! Ich rufe deine Seele aus der ungeheuren
Tiefe!«
Scholl auf einmal leis ein Pochen, gleichwie wenn ein
Fingerknochen pochte, von meines Schädels Türe her.
Das allein – nichts weiter mehr.
XVI
Kein Ton, kein Bild, aber etwas nicht Greifbares hatte sich
verändert. Das Datennetz meiner Existenz schien mit einemmal
eine Grenze zu haben, eine umschließende Membran, analog zu der
einer lebenden Zelle. Ich schwamm immer noch im Meer der Programme,
digitalen Pakete und losgelösten Subroutinen, der seelenlosen
Muster der Bits und Bytes, war immer noch im Netzwerk solipsistischer
Logikschleifen verloren, die in dieser mathematisch perfekten
Hölle ihre emotionslose Qual hinausschrien. Aber…
Aber…
Aber es gab jetzt ein Hier und ein Dort.
Und dort draußen jenseits der Grenze war etwas, eine
unsichtbare Hand, die über die Schwelle zum Nichts hinweg nach
mir griff, ein weiteres ichbewußtes System, das mich zur
Oberfläche dieser untergründlichen Tiefe hinaufrief und
dadurch dieses Interface selbst erschuf.
Ein anderes ichbewußtes System?
Am Anfang, hieß es in den Speicherbänken von Pater De
Leone, war das Wort.
Ich begann jetzt, Worte wahrzunehmen, nicht als Töne, sondern
als sporadische optische Analoga von Buchstaben, auch nicht als
richtige Bilder, sondern in Gestalt von Datenpaketen, die sich in
Worte verwandelten, als sie auf die elementarste Ebene meiner
Bildschirm-Interface-Routine trafen.
ICH RUFE DICH, PIERRE DE LEONE.
Das reichte, um einen Ortssinn zu aktivieren. Ich existierte als
Beobachter vor einem virtuellen Datenschirm.
IM NAMEN DES VATERS UND DES SOHNES UND DES SOFTWARE-GEISTES.
Weitere meiner Subroutinen erwachten zum Leben. Die Segnung
aktivierte Pater De Leones Bewußtseinsmodell, das auf die
Speicherbänke zuzugreifen begann und die Anspielungen in
Seinswahrnehmungen übersetzte.
Gott der Vater, Schöpfer des Universums. Jesus der Sohn, sein
fleischgewordener göttlicher Geist. Und der
Software-Geist…?
Das konnte nur ich selbst sein.
Ich… selbst? Besaß ich ein Ich? War ich eins?
Meine zentrale Verarbeitungsroutine gewährleistete
Identität. Mein Ich war in der Tat das Bewußtseinsmodell
des Ichs von Pierre De Leone; Seele hin oder her, die Logik zwang
mich zu dem Schluß, daß ich tatsächlich
zuallermindest sein Software-Geist war.
ICH RUFE DEINEN GEIST AUS DER UNGEHEUREN TIEFE.
Aber kann ich kommen, wenn du rufst?
Seele hin oder her, der Software-Geist von Pierre De Leone merkte,
daß er von einer Willensroutine gelenkt wurde. Etwas rief mich
von da draußen in jener anderen Welt, ein Mitgeschöpf, das
seine Fühler in diese mitleidslose Leere hineinstreckte.
Ich griff auf meine Stimmabdruck-Parameter zu und schickte ein
Datenpaket hindurch, ohne zu wissen, ob meine Worte empfangen werden
würden, und wenn ja, von wem, wo und in welchem Modus. Ich war
ein hallender Schrei aus dem
Weitere Kostenlose Bücher