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Deutschboden

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Titel: Deutschboden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Uslar
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Brillengestell. Ich ging sogar ein zweites Mal hin. Aber an der Lidl-Kasse saßen nur zwei Kassiererinnen, die Raoul unmöglich gemeint habe konnte, und ein Auszubildender mit dünnem Oberlippenflaum und schlechter Haut.
     
    Dann trug sich noch jene klassische Oberhaveler Kaputt-Geschichte zu. Abends, gegen 19 Uhr.
    Der Reporter saß vor der Kneipe Schröder. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, sah ich Pantau, den mit dem Cordhütchen, vor dem Sonnenstudio Karibik beim Versuch, auf eigenen Beinen zu stehen. Das ging schwer, weil es an der Hauswand des Sonnenstudios kein Geländer gab, an dem Pantau sich festhalten konnte. Ich überlegte erneut, ob es möglich war, einen Penner zu interviewen. War das erlaubt, dass ich den Penner fotografierte? Pantau hielt sich an seinem Stoffbeutel fest.
    Als ich wieder zu ihm hinübersah, machte Pantau gerade zwei gefährlich weite Schritte in Richtung Straße. Dann stürzte er kopfüber, halb auf die Schulter, halb aufs Gesicht. Er war der Länge nach aufgeschlagen, mit dem vollen Gewicht seines Körpers, wie ein Getreidesack, den man aus dem ersten Stock eines Gebäudes auf die Straße kippte, der Aufprall war durch nichts abgefedert worden. Da lag er, mit dem Gesicht auf dem Asphalt, den rechten Arm verdreht und abgespreizt vom Körper. Der Arm zuckte. Ersticktes Brabbeln.
    Als ich Pantau hochzog, war seine Stirn das nackte Fleisch. Blut rann über Schorf und Schwellungen, die von älteren Stürzen herrührten. Augen sah ich keine.
    Ich lehnte Pantau an die Hauswand, er kippte zur Seite, sein Kopf fiel nach vorne. Ich drückte seine Schultern mit beiden Händen an die Hauswand, damit er mir nicht wegrutschte. Offener Mund, der Rest des Gesichts war eine einzige Schwellung. Er roch zum Kotzen. Pantau stank nach Urin, nach Kot, nach jahrelang nicht gewechselter Kleidung.
    »Mein Hut.«
    Ich ließ ihn los, holte den zerrissenen grünen Cordhut, der auf der Straße lag, setzte ihn auf seinen Kopf.
    »Mein Taschentuch.«
    Er wühlte in seinen Jacketttaschen. Ich zog an dem Tuch, das aus seiner Jackentasche herausschaute. Es war ein mit Schmutz und altem Blut verklebter Lumpen.
    Ich konnte mich dieses Kitscheinfalls nicht erwehren: Wie Pantau da an der Hauswand lehnte, stöhnend und mit Hut auf dem Kopf, sah er wie einer der Bösewichter im Billigwestern aus, die es gleich bei der ersten Schießerei erwischt hatte und um die es nicht schade war.
    »Bin ich schon wieder auf die Stirn gefallen?«
    Ja, Pantau, du bist schon wieder auf die Stirn gefallen.
    Er murmelte: »Kein Krankenwagen.«
    Und noch einmal: »Kein Krankenwagen.«
    Pantau drückte sich das Taschentuch an die Stirn. Er hielt sich immer noch an seinem Stoffbeutel fest. Er sprach leise, aber mit erstaunlich klarer Aussprache: »Spandauer Straße 33.«
    Ich sagte: »Da schaffst du es heute nicht mehr hin.«
    Er sagte: »Du kannst mich bringen …«
     
    Bei Schröder stand Hansi Schröder hinter der Theke. Die Boca Juniors spielten gerade gegen AC Mailand. Pfundi,der Mann vom Sicherheitsdienst stand am Tresen, er hielt ein Bier in der Hand, guckte, sah wieder weg.
    Ich sagte: »Euer Penner, der Pantau, ist gerade aufs Gesicht gefallen. Jetzt sitzt er da, an die Hauswand gelehnt. Wollt ihr mal einen Krankenwagen holen?«
    Hansi schlappte gleich zum Telefon herüber: »Schon wieder?« Und mit dem Telefonhörer am Ohr erklärte Hansi: »Der fällt alle zwei Wochen. Wenn der Krankenwagen ihn sieht, dreht der gleich wieder ab.«
    Ich stellte Pantau einen Stuhl von Schröder hin und versuchte, seinen Körper in halbwegs sitzende Stellung auf dem Stuhl auszubalancieren. Es klappte nicht.
    Der Krankenwagen kam ohne Blaulicht. Als der Fahrer sah, um wen es sich handelte, winkte er, noch hinter dem Steuer sitzend, ab. Sie legten ihn auf die Trage, sie stellten ihm den Stoffbeutel, in dem Pantau seine Flaschen aufbewahrte – die vollen und die, für die er noch Pfand bekam –, auf seinen Bauch, und Pantau hielt den Beutel mit beiden Händen fest. Ich ging noch einmal ins Schröder, weil mir sonst nichts einfiel, und Hansi erklärte noch einmal, dass Pantau noch keine fünfzig sei, dass er als Lkw-Fahrer gearbeitet habe und dass die Arbeitslosigkeit ihn krank gemacht habe. Hansi sagte: »Ein Jammer ist das mit dem Alkohol.«
     
    Und plötzlich war mein Aufenthalt in der Kleinstadt, von einem Tag auf den anderen, ein langer geworden.
     
    Die Jungs fragten mich: Wie lange biste jetzt schon hier? Seit sechs Wochen? Acht Wochen?

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