Deutschboden
Pop, Dance, Charts, Black, Soul u. v. m.« beklebt. Die Garage war mit Plakaten tapeziert, die ein nacktes Frauenhinterteil zeigten: »Cocktailabend 2 for 1«. Der Club sah wirklich übel aus, aber auch gut übel, wie ein böser Traum, in dem allerdings allerhand Aufregendes passieren konnte.
Ich stand da, notierte, sprach in meinen Olympus-Stift. Dann ging mir kurzfristig das Gefühl für das, was wichtig und unwichtig war, und für das, was richtig und unrichtig war, verloren.
Ich fotografierte die Diskothek Traxx. Dann fotografierte ich ein Sonnenstudio, das schräg gegenüber vom Traxx lag, und zwar so umfassend und aus allen Perspektiven, bis die Tür des Sonnenstudios sich öffnete und eine vergleichsweise annehmbar aussehende Frau heraustrat und mich fragte, ob das sein könne, dass ich gerade ihr Sonnenstudio fotografiert habe, und was das bitte zu bedeuten habe.
Die Frau stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, ihr ganzes Auftreten verlangte nach einer Erklärung.
Der Reporter griff wieder zu dem Trick, dass er sehr zügig allerhand Unbegreifliches auftextete: Ich interessiere mich, so der Reporter, ganz allgemein für Sonnenstudios, weshalb ich im Speziellen auch ihr Sonnenstudio fotografiert habe. Dann entschuldigte ich mich und ging schnell fort.
Ich stand nun, ganz plötzlich und unvorbereitet, vor dem jüdischen Friedhof: jenem, der vor einigen Jahren geschändet worden war. Ein Hinweisschild hatte ich nicht gesehen. Ich war von der Hauptstraße weg und einen schmalen Weg entlanggegangen: Metall, Wellblech, Holz, Kratzputz, »Hier wache ich«- und »Betreten auf eigene Gefahr«-Schilder. Dann stand ich vor einer Mauer: eine Sackgasse. Der Friedhof eben. Sand trieb durch die Luft. Einige wenige Grabsteine standen auf einem Stück Wiese hinter der Mauer aus Feldsteinen. Es war ein stiller,freundlicher Ort, nur seine Lage – ein Rondell, zu dem jener enge Gang führte – wirkte beklemmend. Eine Tafel nannte 1998 als das Jahr der Wiedereinweihung und den 13. Februar 2001 als die Nacht der Schändung. Schon im April 1933 waren jüdische Geschäfte in der Kleinstadt zerstört worden.
Die Sportkleidung klebte, mir wurde kalt. Und es kamen, im beschleunigten Takt, in dem der Reporter seine Schritte auf den Seitenstreifen der Endlosstraße setzte, eine Vielzahl von Sinnlosigkeits- und Vergeblichkeitsgefühlen in mir hoch: ein toller Schub, eine geile Hektik.
Was war aller Scheußlichkeit, Hässlichkeit, Trostlosigkeit entgegenzusetzen, außer dass der Reporter sich vor sie hinstellte, sie ansah und als exakt das bezeichnete, was sie waren: Scheußlichkeit, Hässlichkeit, Trostlosigkeit. Wer brauchte die Beschreibung von Trostlosigkeit? Bestand die Möglichkeit – das wäre ja eine irre Aussicht –, dass die Trostlosigkeit sich durch ihre detaillierte Beschreibung in einen besser zu ertragenden Zustand verwandelte?
Nein. Anders. Kitsch-Käse. Leider: alles Quatsch.
Aller Inhalt, Wert und Sinn des Reportertums bestand darin, dass die Reportage noch nicht zu Ende war. Es musste weitergehen. Die Geschichte musste weitergehen. Es musste auch deshalb weitergehen, damit die Mickrigkeit, Unbrauchbarkeit, Sinnlosigkeit jeder einzelnen Notiz, Beobachtung, Aufnahme besser wegzustecken war.
Nicht die einzelne Geschichte zählte, nur der Fluss, der Lauf, das Tempo, das von einer Geschichte zur nächsten entstand. Die einzelne Geschichte war immer nur so vielwert wie die Geschichte, die darauf folgte. So fand ja auch das Leben jedes einzelnen Menschen statt: Jedes Erlebnis war für sich genommen ein Witz – ein Sinn konnte einzig in der Hoffnung liegen, dass es irgendwie weiterging. Es war dies also, gerade in den düsteren Stunden, die ganze Arbeit des Reporters: Vorwärts. Weitermachen. Dranbleiben. Mitnotieren. Weiter so.
Im Haus Heimat sagte Wirt Finster die grandios deplatzierte Begrüßung »Hi, Fan« (den Gag hatte der Reporter das letzte Mal Mitte der Siebzigerjahre in der Grundschule gehört). Ein einsamer Pilstrinker an der Bar. Maria war auf andere grandiose und umständliche Art damit beschäftigt, die Wandspiegel im Gastraum zu putzen, wobei sie halb auf dem Boden stand, halb auf einem Tisch lag und dabei ihr Hinterteil in den Gastraum hineinstreckte. Maria trug ein goldenes Fußkettchen. Bei beiden, Wilfried und Maria, wunderte sich der Reporter, wie sehr er sich freute, sie zu sehen. Ansonsten schien mir Finster müder, gramer, gebeugter und noch blasser als sonst.
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