Deutschland umsonst
»Seit Hamburg laufen wir gemeinsam, und jetzt müssen wir zum Tierarzt, sonst geht er drauf .« Das leuchtet den Beamten überraschenderweise ein. Nachdem ich das Protokoll linkshändig mit ungelenker Schrift unterschrieben habe, um so die Unglaubwürdigkeit meiner Aussage noch zu verstärken, fahren uns die Polizisten zum Tierarzt. Dr. med. vet . Ute Warwas hat gerade einen Bernhardiner auf dem Operationstisch, als wir eintreffen. Ihre kaltschnäuzige Empfehlung: »Das dauert noch etwas, lassen Sie den Hund mal hier, und gehen Sie doch solange noch einen trinken.« Auch ihr ist wohl klar, wen sie da vor sich hat.
Im leeren Wartezimmer kommt Feldmann langsam wieder zu sich. Wie aus tiefem Schlaf erwacht, hebt er seinen Kopf und schaut mich benommen an. Apathisch riecht er an seiner eigenen Blutlache, dann leckt er sich gründlich die Vorderpfoten, so als sei gar nichts geschehen. Offensichtlich steht er noch unter Schock.
Sei realistisch, sage ich mir, es gibt kaum Hoffnung, daß er durchkommt. Die Wunde ist viel zu tief, der Blutverlust zu groß, die Ärztin wird ihn einschläfern müssen. Nach einer halben Stunde hilflosen Wartens bin ich dann soweit, daß ich die Kamera aus der Tasche hole, den Tisch mit den Illustrierten etwas zur Seite rücke, damit ich genügend Licht habe, und das »letzte Foto« meines Begleiters mache.
»Der Nächste, bitte !« Ich trage den Patienten in das Behandlungszimmer. Der Operationstisch ist noch warm vom Vorgänger. »Den schustern wir wieder zurecht«, sagt die Ärztin, »das ist gar nicht so schlimm, wie es aussieht .« Während sie mit ihren zwei Assistentinnen dem tapferen Tier das Fell resolut und ohne Narkose zunäht, werde ich meiner Rolle gerecht und sage kleinlaut: »Geld habe ich aber keins .« »Das hab ich mir schon gedacht«, antwortet die Frau Doktor ungerührt, ohne aufzusehen, »ich hab ja Augen im Kopf .« Aus reiner Tierliebe sagt sie, tut sie das, die Fäden muß ich ihm in der nächsten Woche allerdings selber ziehen, »wir sind hier ja nicht bei der Caritas«.
Nach zehn Minuten ist die Wunde zu, und Feldmann springt ohne Hilfe vom Tisch. »Bastarde sind zäh, nach ein paar Tagen Ruhe können Sie mit ihm weitertippeln«, sagt die Ärztin. Zwei Penicillintabletten soll ich ihm morgen und übermorgen ins Futter mischen, möglichst in viel frische Leber, die ist blutbildend. Mühsam schleppt sich Feldmann aus der Praxis. Es regnet immer noch. Wohin ohne Geld mit einem kranken Hund in einer fremden Stadt? Da bleibt nur eins: zurück zu den Sinti. Aber vor dem Hauptbahnhof kann Feldmann nicht weiter. Seine Beine knicken ihm einfach weg, und erschöpft bleibt er neben einer Pfütze liegen.
Ich trage ihn aus der Nässe in die Bahnhofshalle. Die Leute glotzen. Eine Lautsprecherstimme meldet in dramatischem Ton eine Zugverspätung von dreißig Minuten. Dreißig Minuten, als ob dadurch die Welt aus den Fugen gerät. Viel wichtiger wäre jetzt eine ganz andere Durchsage: »Achtung, Achtung. Feldmann ist schwerverletzt und braucht unbedingt ein Pfund blutbildende Leber. Welcher Reisende hat drei Mark klein? Bitte sofort beim Stationsvorsteher melden .«
Ich sitze allein auf einer Bank und warte ohne Hoffnung, daß irgend etwas geschieht. In zwanzig Minuten geht der nächste Zug nach Hamburg — Fahrzeit keine zwei Stunden. Solange kann man es als Schwarzfahrer im Klo gut aushalten, zur Not auch mit Hund. Rechtzeitig zum Kaffee wäre ich wieder dort, von wo ich vor knapp zwei Wochen aufgebrochen bin, und Feldmann hätte genug Zeit, sich in Ruhe auszukurieren. Der Sekundenzeiger der großen Bahnhofsuhr zieht gelassen seine Kreise. Nur wenn er oben die Zwölf erreicht hat, verschnauft er kurz, als müßte er sich vom mühsamen Aufstieg etwas erholen, dann gibt er sich einen Ruck, und weiter geht’s.
Um 11.43 Uhr kommt eine ältere Frau mit einer weißen Binde um den rechten Oberarm auf mich zu und fragt, ob ich verlorengegangen sei. Sie fragt das so mütterlich besorgt, so voller Mitgefühl, ich hätte sie küssen können. Im Wartezimmer der Bahnhofsmission auf Gleis 2 bringt sie mir eine Tasse Tee mit zwei Schmalzbroten und verlangt, »nur der Ordnung halber«, meinen Ausweis. Sie trägt meine Personalien in ein dickes Buch, dann quittiere ich den Erhalt des Tees und der Schmalzbrote. Ordnung muß sein. Ich erzähle der Missionarin, was uns zugestoßen ist hier in Hildesheim und daß Feldmann jetzt dringend Leber braucht, die ich nicht bezahlen kann. Die Frau ist
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