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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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vor Menschen. Mutig zieht mich Evelyn an den staunenden, biergetrübten Blicken vorbei zur Sektbar und bestellt selbstbewußt zwei Piccolo. Noch bevor ich sie über meine Finanzen aufklären kann, hat sie ihr Portemonnaie in der Hand. »Laß mal«, sagt sie, »das mach ich schon, heute abend bist du mein Gast .« Wenn das so weitergeht, hat sie mich in drei Stunden in ihrem Bett, denke ich mit gemischten Gefühlen. Schon spüre ich mich unruhig werden, schon schiele ich besorgt nach dem Ausgang, aber Evelyn läßt mir erst gar keine Fluchtmöglichkeit, sondern bittet zum Tanz. Die Band in schillernden Smokingjacken spielt » Umba-umba-umba-tätäräh «. Auf dem Parkett ist es so eng, daß man sich nur dem wogenden Gleichschritt der Masse anpassen kann. Dennoch meint meine Partnerin, ich könne »phänomenal« tanzen, und »phänomenal« findet sie auch meine Größe. Sie ist auch nicht gerade klein, von solider Statur, mit breiten Schultern und Hüften, im Handballclub der Gronauer Damenmannschaft spielt sie als rechter »Flügelmann«. Natürlich ist sie auch Mitglied im Schützenverein und in der Landfrauenvereinigung, das sei sie der Kundschaft schuldig. Um die Kunden muß hart gerungen werden, denn im Dorf gibt es eine Edeka-Konkurrenz, vom Aldi-Markt in Hildesheim ganz zu schweigen. »Wenn wir die Lotto-Annahme nicht hätten und die Post, wir wären längst pleite .«
    Tanzpause. »Noch zwei Piccolo«, bestellt Evelyn, bevor wir die Gläser leer haben. Sie scheint es wirklich wissen zu wollen heute nacht. Die Bauernjugend kann man vergessen, sagt sie, in ihrem Alter sind schon alle längst verheiratet, »mit meinen 22 Jahren gilt hier eine Ledige fast als alte Jungfer«. Da bin ich ja gerade zur rechten Zeit gekommen, dämmert es mir. Überall stecken die Leute die Köpfe zusammen und rätseln herum, mit wem die Meierholz da wohl zusammenhockt, wobei besonders meine etwas klobigen Schnürschuhe viel Gesprächsstoff zu bieten scheinen. Evelyn genießt die Aufmerksamkeit. Es dauert nicht lange, da bittet ein pausbäckiger junger Mann das Mädchen zum Tanz. Ohne Erfolg. Bevor er sich mit seinem Korb davonmacht, wirft er mir einen so bösen Blick zu, daß ich mich aus Angst vor einer Schlägerei kaum noch aufs Klo wage.
    Gegen Mitternacht, nach einem guten Dutzend Piccolos und viel » Umba-umba-umba-tätäräh «, kurven wir wieder heimwärts. Anders als meine Begleiterin bin ich ziemlich angetrunken, was aber meine Beklommenheit vor dem, was nun vermutlich kommen wird, kaum mindert. Unaufhaltsam nähern wir uns meiner Scheune. Vor dem Hof des Bauern Bendschneider hält Evelyn den Wagen an und stellt den Motor ab. Bedrückende Stille. Jetzt muß was geschehen, denke ich, du kannst sie doch nicht einfach so unverrichteter Dinge wieder fahren lassen. Ein Dutzend Piccolos läßt doch kein Mensch aus purer Nächstenliebe springen. Aber bevor ich zu irgendeiner Verzweiflungstat schreiten muß, sehe ich auf einmal Tränen in Evelyns Augen. Alles Selbstbewußtsein bricht in sich zusammen, und was bleibt, ist die nackte, schreiende Hilflosigkeit eines Mädchens, das sich hoffnungslos verloren fühlt, gefangen in einem 200-Seelen-Dorf, eingesperrt in ihrem Krämerladen, den zu übernehmen sie ihrer Mutter nach dem Tod des Vaters hoch und heilig versprechen mußte. Dabei wäre sie viel lieber Krankenschwester geworden, in einer Stadt weit weg von zu Hause, »wo nicht jeder jeden kennt und wo man nach Feierabend tun und lassen kann, was einem paßt«. Ihr Leben, sagt sie, spielt sich doch nur im Urlaub ab, da fährt sie immer drei Wochen nach Portugal, »um mal tief durchzuatmen«, den Rest des Jahres fühlt sie sich »wie gestorben«. Seit dem Tod ihres Vaters teilt sie gar noch mit der schwer trauernden Mutter das Ehebett, zusammen mit dem väterlichen Schlafanzug, und seine angebrochene Packung Juno-Zigaretten liegt wie eine heilige Reliquie auf dem Nachttisch. »Mutter ist zu schwach, um ohne mich zu überleben«, sagt sie. So muß Evelyn ihr beistehen, auch wenn sie selbst dabei draufgeht. Als ich sie tröstend in den Arm nehmen will, wehrt sie lächelnd ab. »Laß man gut sein, ich brauchte halt mal jemanden zum Abladen, und da kamst du Herumtreiber gerade wie gerufen .«
    Gegen Mittag liege ich am Hang eines Hügels unter dem Dach einer Buche, welliges Land mir zu Füßen. Ich blicke in die Richtung, aus der ich gekommen bin, zähle zwölf Kirchtürme über zwölf kleinen Dörfern, sehe ganz hinten im Sommerdunst, dort

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