Deutschland umsonst
Journalistentratsch: daß im New Yorker Büro von GEO fünfzehn Leute gefeuert wurden, daß in der ZEIT ein Grabenkrieg ausgebrochen sein soll zwischen Liberalen und Konservativen und daß Augstein mit Haschisch im Gepäck festgenommen wurde. Begierig lasse ich mir von den schönen Reisen berichten, die Timm gerade hinter oder vor sich hat, von Portugal, Australien und Rio. Da kann ich mit Aplerbeck , Holzminden und Hildesheim kaum gegenanstinken , denke ich, doch Timms Augen leuchten so wie meine. »Tolle Geschichten«, sagt er, und mir dämmert, wie sehr ich doch ganz der alte geblieben bin. Vielleicht ist diese Wanderschaft gar nichts Neues für mich, sondern nur die Fortsetzung meines Lebenswegs mit anderen Mitteln. Die Füße ersetzen den Alfa, die leeren Taschen die vollen, aber ansonsten bin ich nach wie vor für jede »heiße Story« dankbar.
Ein Nichtseßhafter war ich auch als Reporter, Abhauen war mein Beruf, und ich wurde gut dafür bezahlt. Gratis dazu gab es schöne Reisen, teure Hotels, gutes Essen, berufliches Renommee, aber was war mit den Leuten, über die wir berichteten? Mitte der siebziger Jahre recherchierten Timm und ich eine Geschichte über Spätaussiedler. Wir fuhren nach Schlesien und besuchten Polen deutscher Nationalität, die sich seit Jahren vergeblich um eine Ausreisegenehmigung in die Bundesrepublik bemüht hatten. Vierzehn Tage nachdem wir in einer großen Reportage über das persönliche Schicksal dieser Menschen berichtet hatten, durften sie endlich reisen. Stolz empfingen wir sie im Lager Friedland und riefen die Leser auch noch zu Patenschaften auf, um den Aussiedlern die Integration in ihre neue Heimat zu erleichtern. Auf die Idee, selber Pate zu werden, kamen wir erst gar nicht. Wir hatten einen guten Artikel geschrieben, damit war die Sache erledigt. Längst wartete ein neues »brandaktuelles« Thema darauf, daß wir es anpackten: Gastarbeiter, Arbeitslose, Chile-Flüchtlinge, Nichtseßhafte, jugendliche Trinker.
So schmarotzten wir uns mit unserem »sozial engagierten Journalismus« durch das Elend der Leute, und oft wurde uns selbst hundeelend dabei. Zwar brachten wir der Öffentlichkeit die Probleme mancher Randgruppe näher und dienten damit auch deren Interessen, doch die Betroffenen selbst blieben dabei fast immer auf der Strecke. Sie hatten uns ihre Not geschildert, wir nahmen alles zu Protokoll, machten Bilder, und weg waren wir. Das ging auf die Dauer an die Nieren, und es war auch einer der Gründe, warum ich Vorjahren den guten Job bei der ZEIT kündigte, um mich intensiver und ein Stück ehrlicher mit den Leuten zu befassen, denen ich meinen journalistischen Erfolg verdankte. Ich packte die Koffer und fuhr nach Kanada, wo ich ein Jahr lang bei den Hutterern lebte, einer deutschstämmigen Wiedertäufersekte , die seit Jahrzehnten einen urchristlichen Kommunismus praktiziert. Mich faszinierte das enge Gemeinschaftsleben dieser »Brüder und Schwestern«, wie sie sich selber nennen, die den Privatbesitz ebenso ablehnen wie jede Art von Gewalt. Ich glaubte, hier eine Lebensform gefunden zu haben, von der ich und meine Leser einiges lernen könnten. Damit ich auch wirklich wußte, worüber ich schrieb, brachte ich mich ganz ein in diese Glaubensgemeinschaft, trug hutterische Tracht, betete hutterische Gebete, erntete hutterischen Weizen. Doch als das Jahr um war, enttäuschte ich wieder: Die strenggläubigen Hutterer mißverstanden mein persönliches Engagement und betrachten mich heute fast als Abtrünnigen, der in ihre Gemeinschaft gekommen war, nicht um einer der ihren zu werden, sondern allein um ein Buch zu schreiben. Wieder einmal stand ich ratlos vor einem Scherbenhaufen, und doch glaubte ich, richtig gehandelt zu haben.
Nach all diesen Erfahrungen grub ich meinen alten Plan wieder aus, eine autobiographische Wanderung durch Deutschland zu machen, zunächst noch ohne jede Verwertungsabsicht. Ich wollte einfach losgehen und die Orte ansteuern, die mit mir persönlich etwas zu tun haben. Wen interessieren schon Holzminden oder Heppenheim oder Bergisch-Gladbach, fragte ich mich, die interessieren vor allem mich selbst. Und unterwegs wollte ich den Menschen, über die ich früher Artikel geschrieben hatte, nicht als Reporter begegnen, sondern als einer, der selbst notleidend ist, der Hilfe braucht und der in erster Linie kein Informationsbedürfnis hat, sondern Hunger. So war das Projekt in meinem Kopf gewachsen, und als ich losging, steckte dann doch die Kamera
Weitere Kostenlose Bücher