Deutschland umsonst
versprach er mir und schickte mich mit einem Essensgutschein über fünf Mark als Zehrgeld auf den Weg. Die vier Tafeln Schokolade reichten gerade bis zur Stadtgrenze, die restlichen fünfzig Kilometer waren ein einziges Hungerleiden.
So denke ich vor allem daran, möglichst bald etwas zwischen die Zähne zu bekommen, während der Sprechgesang des Heimleiters auf mich niedergeht wie lauwarmes Weihwasser. Es ist viel von »Besserung« die Rede, von »Anstand« und »guter Führung«. Blind unterschreibe ich ein Stück Papier, das mir am Ende der Moralpredigt vorgelegt wird, und sehe meinen Ausweis in einer Schublade verschwinden, in der schon viele Ausweise hegen. »Den kriegense nach Ihrer Entlassung zurück«, höre ich, »jetzt lassense sisch erst mal einweisen, und den Hund lassense über Nacht im alten Kälberstall, da ist Platz jenug .«
Ein Kalfaktor führt mich in meine Unterkunft, ein sauberes Zimmer mit vier Betten, vier Schränken und vier Stühlen um einen viereckigen Tisch. Er gibt mir frisches Bettzeug, blaukariert, ein Stück Seife, ein Handtuch und, wichtiger für mich als alles andere, den Hinweis, daß um 12.30 Uhr zu Mittag gegessen wird.
Um 12.30 Uhr steht eine lange Schlange ungeduldig wartender Männer vor dem Speisesaal. Auf Zehenspitzen sehe ich durch die offene Tür auf die gedeckten Tische und meine, Gulasch zu riechen. Alles scheint gerichtet, aber ein kleiner, schwindsüchtiger Kerl versperrt uns Wartenden mit dem Rücken zum Eßraum den Zutritt. Die Uhr in der Hand läßt er noch ein paar Minuten vergehen, bis der Zeiger auf halb eins gekrochen ist. »Fertig — Essen fassen«, signalisiert er, und wir stürmen auf die langen Holzbänke zu. Ich setze mich gleich nach vorn an den Eingang, doch da kommt der kleine Türsteher und scheucht mich davon. »Holla, holla, mein Herr«, sagt er, »du setzt dich mal schön nach hinten ins Eck, wir sind hier nicht bei den Hottentotten, hier herrscht Ordnung .« Mir soll es recht sein, denn auch da hinten, neben dem diebstahlsicher montierten Fernseher, gibt es etwas zu essen.
Aber die Fehlplazierung hat mich wichtige Sekunden gekostet. Kartoffeln sind noch reichlich da, in der Gulaschschüssel jedoch muß ich nach den letzten Fleischbrocken fischen. Meine acht Tischgenossen schaufeln bereits kräftig in sich hinein. Ihren ausgezehrten Gesichtern ist anzusehen, daß sie schon schlechtere Zeiten erlebt haben. Ob blaß vom Knast oder wettergegerbt von der Straße, jedes Gesicht zeigt Spuren der Auszehrung, der Ruhelosigkeit, der inneren Zerrüttung. Gustav die Ratte aus Paderborn würde hier nicht auffallen, aber auch an mir nimmt anscheinend niemand Anstoß. Was sich neben dem Rand des eigenen Tellers abspielt, ist jetzt nicht wichtig; wichtig ist nur: satt werden, Kräfte sammeln, wieder auf die Beine kommen. Unser gieriges Schweigen hat etwas Tierisches.
Ich habe den Kartoffelberg auf meinem Teller noch nicht einmal zur Hälfte abgetragen, da stehen schon die ersten auf, um in der Küche Nachschlag zu holen. Kartoffeln gibt es jede Menge, Gulasch aber ist rar. Das bringt der kleine Koch persönlich im Metalleimer und verteilt das knappe Gut mit seiner Kelle ungleich auf unsere Teller. Die einen bekommen fast nur Fleisch, die anderen fast nur Soße, doch niemand sagt ein Wort. Schweigend schlucken wir die Ungerechtigkeiten, die er uns auftischt. Als der Koch dann auch noch eine verlockend aussehende Quarkspeise ausgerechnet denen vorsetzt, die ohnehin schon genug hatten, kann ich mich nicht mehr länger zurückhalten. Ich frage meinen Nachbarn, wieso wir schon wieder leer ausgehen. » Dat is die Treueprämie für die alten Hasen«, antwortet der zahnlose Alte mürrisch, »die schon Wochen hier sind.«
Warum es nur so wenige im »Haus Segenborn« wochenlang aushalten, wird mir gleich nach dem Essen klar. Der Kalfaktor führt mich in eine flache Baracke unterhalb eines Hühnerstalls zum »Kloppen«. Dort sitzen die Männer schon um drei große Tische vor Bergen aus eckigen, weißen Plastikstücken und pfenniggroßen Aluminiumteilen, die sie mit Gummihämmern stumpfsinnig zusammenklopfen . »Fünf- bis sechstausend Stück am Tag sollten für den Anfang drin sein«, wird mir gesagt.
Also lege ich, so wie es mir die anderen vormachen, Metall auf Plastik und schlage zu. Nachdem mir die ersten Teile verkanten, weiß ich bald, wie man’s macht. Unablässig geht mein Hammer auf und nieder, hundertmal, tausendmal. Als der Nachmittagstee gebracht wird,
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