Deutschland umsonst
sind meine Finger taub. Das »Kloppen« verstummt. Kurze Pause. Zigaretten werden gedreht, die Leute schütten sich den dünnen Tee in alte Nescafégläser , die Gespräche beschränken sich auf das Nötigste: »Gib mir mal Feuer«, »Wer hat Tabak«, dann herrscht wieder Schweigen.
Erst spät nachts, nach was weiß ich wie vielen Hammerschlägen, nach einem recht guten Abendessen mit reichlich Aufschnitt und Treuekuchen für die Alteingesessenen, nach einem endlosen Fernsehabend, den ich, wie die meisten hier, von der »Tagesschau« bis zum Sendeschluß im Tiefschlaf über mich ergehen lasse, erst danach, als wir schon in den Betten liegen, das Licht ist längst verloschen, fängt einer an zu reden: »Du hast dir nichts zuschulden kommen lassen«, redet er mit sich selber im Dunkel des Zimmers und läßt sich von Heintje nicht stören, der leise aus seinem Kassettenrecorder dudelt, »bist immer höflich, immer nett, gegenüber von Tchibo warmes Mittagessen, der Weg nach Gummersbach hat sich gelohnt, alles klar... Die drei Pastoren in Lüdenscheid, von jedem einen Heiermann, das soll dir doch erst mal einer nachmachen, und dabei immer höflich, immer nett .« »Halts Maul jetzt, du Aufschneider«, unterbricht ihn eine rauhe Stimme, »deine Geschichten kennen wir langsam .« Dann ist wieder Ruhe. Nur Heintje singt noch eine Weile von Liebe und Heimat und Sonnenschein im Herzen, und ich bekomme Beklemmungen und renne im Dauerlauf raus, durch einen unendlich langen Emscher-Tunnel , Feldmann hechelt mir voran, es ist stockfinster, der Weg ist glitschig, der Fluß riecht ätzend scharf, ein falscher Tritt, und ich falle ins Wasser, aber ich muß da durch, irgendwo muß ja das Ende sein, irgendwann muß das Licht wiederkommen, doch der Tunnel verengt sich, die Luft wird immer beißender, immer drückender, ich halte den Atem an, stoße mir den Kopf an der feuchten Decke, stürze, rapple mich wieder hoch, laufe gebückt schneller und schneller, ermüde, verzweifle, meine Lage scheint ausweglos.
Das Zimmer ist hell und leer, als ich erwache. Niemand hat mich geweckt. Ich springe in meine Sachen. Feldmann wartet schon mit sehnsüchtigem Jaulen darauf, daß ich ihn endlich aus seinem Kälberstall befreie. Im Speisesaal wischt der Koch die abgeräumten Tische. »Du fängst ja gut an, Langer«, spöttelt er, »denkst wohl, wir sind ein Erholungsheim .« Mit einem Marmeladenbrot schickt er mich zur Arbeit. Aus der Baracke ist schon das eintönige Klopfen zu hören. Keiner der Männer nimmt von meinem Zuspätkommen Notiz. Ich bin bestimmt nicht der erste, der schon nach einem halben Tag »Kloppen« genug hat von Segenborn und mit dem Gedanken spielt, gleich wieder abzuhauen.
Mir kommt die Arbeit heute noch eintöniger vor als gestern. Es sind die völlig veränderten Lebensbedingungen, die mir zu schaffen machen, die ewige Sitzerei im verbrauchten Werkstattmief, der genau festgelegte Tageslauf, die strenge Hierarchie: Heimleiter, Kalfaktor, Koch, Wochenlängliche und Eintagsfliegen — das alles steht in so scharfem Kontrast zum Leben auf der Straße, wie es sich krasser kaum denken läßt.
Am schwersten aber bedrückt es mich, mit Menschen zusammenzuleben, mit ihnen zu arbeiten, zu essen, zu wohnen, und das alles ohne den geringsten Kontakt, ohne die leiseste Andeutung einer persönlichen Annäherung. Zwischen den Männern ist keinerlei Zuneigung zu spüren, auch keine Ablehnung — Gleichgültigkeit beherrscht das Klima, seelische Apathie. Das einzige, was von ihnen ausgeht, ist Resignation, Hoffnungslosigkeit, Trauer.
Aber dann finde ich am Abend meines dritten Tages in Segenborn beim Zubettgehen einen Brief unter meinem Kopfkissen, der mir zeigt, wie ahnungslos ich bin. »Lieber Junge«, steht da ungelenk auf einem herausgerissenen Fetzen, »ich beobachte Dich, seit Du hier bist und hab mich in Dich verliebt. Ich würde gern Dich treffen. Wenn Du willst, komm vor die Eßraum, da warte ich. Den Brief zerreiß sofort. Ich heiße Jacky .« Betroffen lasse ich das Papier in meiner Hosentasche verschwinden. Um nicht weiter vor meinen Zimmergenossen aufzufallen, ziehe ich mich erst mal aus und tue so, als sei nichts gewesen. Aber die nehmen ohnehin keine Notiz von mir, mich könnte jetzt der Schlag treffen, niemand würde das registrieren. Im Bett versuche ich meine Gedanken zu ordnen. Was soll ich tun? Wer ist Jacky ? Wenn er mich schon seit Tagen beobachtet, warum habe ich das nicht gemerkt? So etwas müßte mir doch
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