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Deutschland umsonst

Deutschland umsonst

Titel: Deutschland umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Holzach
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auffallen, gerade hier! Und gerade hier, wo jeder nur dumpf vor sich hin zu vegetieren scheint, da finde ich zu später Stunde einen Liebesbrief unter meinem Kopfkissen — eine Geschichte, wie sie ein Lore-Roman nicht besser erfinden könnte. Schlecht in dieses Bild paßt allerdings, daß ich mich hier nicht auf einem Wasserschloß an der Loire befinde und daß Jacky wohl kein Prinz ist. Eine Comtesse wäre einer solch dreisten Aufforderung zum Rendezvous auch gar nicht nachgekommen und hätte den Verliebten draußen schmachten lassen. Ich aber ziehe mich wieder an und verlasse ohne überflüssige Begründung den Raum.
    Vor dem ungeschützten Eingang des Speisesaals steht ein Mann rauchend im Regen. Das schwache Licht der Außenlampe des Hauses streift ihn von schräg oben und verzerrt sein Gesicht. Seine rötlich schimmernden Haare sind naß, er muß schon länger hier gestanden haben. »N Abend«, grüße ich, ohne meine Beklemmung überspielen zu können. Der Mann antwortet nicht, sondern reicht mir eine fertiggedrehte Zigarette, die ich an seiner Kippenglut entzünde. Ein paar Züge lang schweigen wir. Dann fragt Jacky , mit starkem slawischem Akzent: »Warum bist du gekommen ?« »Weil ich froh war, hier endlich mal mit jemandem reden zu können«, antworte ich. Wieder glühen unsere Zigaretten ein paarmal auf, bevor sich Jacky erkundigt, ob ich »gesessen« habe. »Nein«, antworteich , »und du?« Jackys Lebensgeschichte ist lang, aber er zögert nicht, sie hier, mitten in dieser regnerischen Nacht, bis ins Detail vor mir auszubreiten: In Budapest war er Schauspieler, wurde eingezogen, kämpfte 1956 gegen die Russen, flüchtete nach der Niederschlagung des Aufstands im Panzer nach Österreich und ist seitdem unterwegs. Seine Pommesbude in München machte Pleite, die Kölner Baufirma, für die er dann Entlüfter installierte, ging in Konkurs, in Hamburg war er eine Weile im Hafen beschäftigt, in einer Fabrik, im Gartenbau. Als ihn sein Freund verließ, mit dem er zehn Jahre alles geteilt hatte, schnitt er sich in einer Pension die Pulsadern auf, aber das Zimmermädchen kam früher als erwartet. Heute bereut Jacky , der eigentlich Laszlo heißt, daß er sich damals in Ungarn am Aufstand beteiligt hat. »Es war Blödsinn, für das zu kämpfen, was uns die >Stimme Amerikas< versprochen hat«, sagt er leise, »was ist das hier schon für eine Freiheit .«
    Der Regen hat aufgehört. Jacky schaut mich an, als erwarte er, daß ich nun von mir erzähle, aber ich sage nichts, fühle mich mies, weil ich nicht gekommen bin, um zu reden, wie ich es vorgab, sondern um zu fragen, auszufragen, aus reiner Neugierde. Der Reporter ist hellwach.
    »Bist du überhaupt schwul ?« fragt mich Laszlo. Fast schuldbewußt schüttle ich den Kopf. »Mach dir nichts draus«, sagt er, wirft seine Zigarette in die Nässe und geht.
    Warum ich am nächsten Morgen im Büro meinen Abschied nehme, scheint den Heimleiter nicht weiter zu interessieren. »Se kommen unse jehen «, singsangt er mit demonstrativer Gleichgültigkeit und kommt gleich zum Geschäftlichen: »Dreieinhalb Tage, dat is ne halbe Woche«, rechnet er mir korrekt vor, »also jenau siebenmarkfuffzisch minus fünf Mark Vorschuß sin zweimarkfuffzisch Rest.« Dreieinhalb Tage, rechne ich für mich nach, das waren in etwa achtundzwanzig Arbeitsstunden für dreißig Pfennig Stundenlohn runde 75 000 Scharniere. Die Heimwerkstatt muß sich bei dieser Bezahlung wirklich hervorragend rentieren. Mit dem Restlohn bekomme ich auch meinen Ausweis zurück und bin wieder frei.
    Erleichtert lasse ich die Beine fliegen, der Rucksack tanzt mir auf dem Rücken, Feldmann schießt aufgekratzt durch das Bergische Land. Es geht durch enge, geduckte Täler, über kleine, gedrungene Hügel durch Wälder und Felder. Tiefe Wolkenbänke entladen sich immer wieder mit solcher Heftigkeit, daß mir das Wasser aus dem Bart läuft. Dann hellt es wieder auf, die Wälder beginnen zu schwitzen und dampfen in dichten Nebelschwaden die Nässe aus sich heraus. Laut Bibel hat die Sintflut vierzig Tage gedauert — diesmal scheint es der liebe Gott in der halben Zeit zu schaffen, denn das Land ertrinkt. Die Kühe stehen bis zum Euter im Morast, der einmal Weide war, feuchtes Getreide läßt die Köpfe schwer hängen, schwarze Heuhaufen faulen zu Kompost, überreife Wiesen sind längst fällig für den ersten Schnitt — es muß bald Juli sein!
    In den Gärten der Bauern stehen Pfützen, groß wie Seen, die grünen

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