Deutschland umsonst
»da drobe hats nur ganze Mannsleut , drunten im Tal, das sind doch nur halbe Hansel .« Auf der Alm leben heißt für ihn frei sein, da darf er rauchen, bis ihm schlecht wird, und ins Bett geht es nie vor Mitternacht. Hirte würde er am liebsten sein ganzes Leben lang bleiben, doch der Vater, ein städtischer Beamter aus Sonthofen, hat’s verboten. Möbeltischler soll er werden, »Handwerk hat goldenen Boden«, zitiert er seinen »Alten«, doch mit Hobel und Fuchsschwanz will Leo sein Lebtag nichts zu tun haben. Ihn interessieren seine 91 Kühe mehr, die er alle beim Namen kennt: das Weißhorn, die Scheckerte , das Gustl, die Bunte, die im letzten Jahr einen zehn Meter tiefen Sturz überlebt hat, und natürlich Fritz, den Stier, sein ganzer Stolz — schon am Klang ihrer Glocken kann er sie alle unterscheiden.
Der Kleinhirte ist aber auch groß in der Alpenbotanik. In Biologie hat er zwar nur einen Vierer, aber was da in den Bergwiesen blüht, das weiß er genau. Stolz zeigt er mir »Preußen« den leuchtendblauen bayrischen Enzian, der so empfindlich ist, daß er schon nach leichter Berührung scheu seine Blüten schließt; den stacheligen Alpenmannstreu, der wohl eher aus Mangel an Gelegenheit nicht fremdgeht, ganz im Gegensatz zum Wilden Männlein, das die zottigen Blütenblätter wie einen Landsknechtshut verwegen gegen den steifen Wind hält; dann den kleinen Himmelsherold, wie er mit seinen zahllosen rotvioletten Blüten die Felsen polstert; die Hundszahnlilie, die sich zäh an einem steilen Hang festgebissen hat; die widerborstige Kratzdistel, vor der selbst das gefräßige Vieh Respekt zu haben scheint; traubenartige Steinschmückel werden mir präsentiert und fleischrotes Läusekraut, Drachenmaul und Teufelskralle, Mutterwurz und Mannesschild, Spinnwebhauswurz und Blasentragant — und nach fünf Stunden botanischer Exkursion haben die Wiesen in meinen Augen plötzlich ein völlig neues Gesicht, sind voller Poesie, wie die Namen ihrer Bewohner, sind voller Mäuler und Krallen und Zungen und Füße, voller Hüte und Helme und Schuhe und Schellen, voller Herolde, Männlein, Mütter und Mägde. Vor der Almhütte pflückt Leo mir noch ein Alpenveilchen, die einzige Blume, von der ich schon vorher gehört hatte, und sagt, ich soll sie pressen und immer bei mir tragen, das sei gut » gegens Reißen im Altr «.
In der Almhütte steht die Pfanne mit Bratkartoffeln und Leberkäs schon auf dem Herd, der Almspeiseplan kennt so wenig Abwechslung wie der Tageslauf der Hirten. Nach Tisch geht es zum Holzhacken, am Abend läßt das nächste Gewitter die Wände erzittern, und am nächsten Morgen zähle ich mit Leo wieder bis 91.
So gehen die Tage in den Bergen gleichförmig dahin, ohne eine Sekunde langweilig zu sein. Ich spüre Ruhe in mir einkehren, beobachte vor jedem Einschlafen durch mein Bettfenster, wie der Vollmond langsam zur Sichel abmagert, ich lerne Blumen erkennen und die Scheckerte von der Gustl unterscheiden, doch als an einem Morgen die Wiesen ums Haus weiß erstarrt unter einer klirrenden Rauhreifdecke liegen, da weiß ich, daß es Zeit für mich ist.
Mit einer dicken Scheibe Leberkäs im Rucksack und frischer Milch vom Mausili in der Feldflasche verlasse ich meine Arche. Fast hatten wir drei Männer uns aneinander gewöhnt in der Woche, die ich dort oben zu Gast war. Der menschenscheue Sepp war mit der Zeit zu mir fast zutraulich geworden, hatte mir zerknitterte Fotos gezeigt von seinen verstorbenen Eltern und sich von mir gar im Bett fotografieren lassen.
Die Didieralm war der Scheitelpunkt meiner Reise, nun geht es in nordöstlicher Richtung auf München zu. Bis Sonthofen komme ich noch an einem halben Dutzend Almen vorbei, scheußliche Touristenattraktionen zumeist, mit kleinen Biergärten hinterm Misthaufen und Speisekarten an der Stalltür. Die Preise steigen, je tiefer es geht: Kostet die Brotzeit in der Simatsgrundalm auf 1300 Meter noch 5,60 DM, so muß der Gast der 300 Meter abwärts liegenden Mittelbergalm unter verregneten Langnese-Sonnenschirmen schon sechs Mark bezahlen. Am Wirtshaus » Almagmach « steht gar ein geldgieriger Wegelagerer hinter einer Schranke und kassiert pro PKW fünf Mark Straßenbenutzungsgebühr, denn dieses Landschaftsschutzgebiet gehört dem Fürsten von Zeil aus Isny. Fußgänger läßt Seine geschäftstüchtige Durchlaucht großzügigerweise gratis passieren.
Um Übernachtungsquartiere brauche ich mir im Voralpenland keine Sorgen zu machen, auf jeder Weide
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