Deutschland umsonst
sein Vollmond ist glutrot. Wut, Scham, Verlegenheit — von jedem etwas steht ihm im Gesicht. Ich weiß, daß dieser Bruder heute nacht schlecht schläft. Vielleicht wird ihm der Heiland erscheinen mit Rucksack und Hund, und er wird ihn fragen: »Bruder, Bruder, warum hast du mich verraten ?« Betreten greift er in die Falten seiner Soutane, die bei ihm eher wie ein Umstandskleid ausfällt, und zieht einen Zehnmarkschein hervor. »Nehmens und gehens «, sagt er hastig und verdrückt sich geschwind.
Im Kloster-Bräustübl , gleich nebenan, höre ich nach zwei Maß Bier die Englein singen.
»Ich bin der Sohn der Baronin Gersdorff «, sage ich, und der Hausmeister muß dreimal hinsehen, bis er mich erkennt. »Sie haben sich aber verändert, Herr Baron«, antwortet er. »Ich war in letzter Zeit viel unterwegs«, erkläre ich. »Ach so.« Endlich gibt er mir die Schlüssel zur Wohnung meiner Mutter.
Wenig später liege ich in ihrem Bett. Es ist frisch bezogen, aber ihr Geruch ist präsent. Ihr Parfüm, ihre Haut, ihr Haar — mir ist, als läge sie neben mir, und mir ist nicht wohl dabei. Hätte ich lieber doch nicht herkommen sollen, von Hamburg, zu Fuß ins Bett meiner Mutter? Dabei wäre die Baronin bestimmt stolz auf ihren Kronsohn, wenn sie’s wüßte, da oben auf Sylt, wo sie sich jetzt vermutlich braunbrennen läßt, so wie früher am Wannsee in Berlin, als sie noch Frau Holzach war und ich keine zehn Jahre alt. Damals lief ich am Badestrand immer ein paar Schritte hinter ihr her und zählte die Männer, die sich nach ihr umschauten. Ich konnte stolz sein auf meine Mutter, doch konnte sie damals auch stolz sein auf mich? Ich war ihr einziger Sohn, eigentlich ihr einziges Kind, denn meine Schwester lebte bei meinem Vater in Karlsruhe — so hatten es die Eltern im Scheidungsvertrag festgeschrieben. Also war ich auch der Mann im Hause Holzach , Berlin-Wilmersdorf, Markobrunnerstraße 1. Besucher machten mich krank vor Eifersucht, sie waren viel größer als ich, viel stärker, sie waren richtige Männer! Ich aber machte ins Bett, wenn sie zu spät von einer Party nach Hause kam, ich traute mich nicht einmal, im KaDeWe Rolltreppe zu fahren, weil ich Angst hatte, ich trete zwischen die Stufen, stolpere und falle hinunter. »Schlappschwanz« nannte mich meine Mutter deshalb, ganz laut, vor allen Leuten: »Nun komm schon, du Schlappschwanz !«
Ich schlafe schlecht im Bett meiner Mutter. Im ersten Morgenlicht erkenne ich mein Bild über mir am Fußende des Bettes. »Mein geliebter Mischiputz «, so nannte sie mich zu der Zeit, als ich für diese Zeichnung Modell saß, artig, still, die eine Hand über der anderen. Aber die Rolltreppen im Kaufhaus waren Foltermaschinen, Abgründe oder Steilwände, je nachdem, ob sie abwärts oder aufwärts fuhren. Heute könnte sie mich nicht mehr Schlappschwanz nennen, zu Fuß einmal durch Deutschland, das soll mir erst mal einer ihrer Männer nachmachen.
Ich greife zum Telefon auf dem Nachttisch und rufe die Auskunft der Bundesbahn an, um die Abfahrtszeit des nächsten Zuges nach Hamburg zu erfragen. Der Intercity »Ernst Barlach« verläßt München in drei Stunden, Abfahrt 9.30 Uhr, Ankunft 17.10 Uhr.
VI
Abends wieder in Hamburg. Freda bringt mir eine Tasse heißen Kamillentee ans Bett. Ich habe hohes Fieber, 39,5. Alles tut mir weh, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, die Füße sind wundgelaufen, und Feldmann liegt zum Skelett abgemagert unter meinem Schreibtisch.
Der Rückweg von München nach Hamburg hat sich endlos hingezogen, aus acht Stunden sind neun Wochen geworden, beschwerliche Wochen, kalte Wochen. Inzwischen ist es November, und draußen liegt der erste Schnee.
Im Bett meiner Mutter durfte die Wanderung denn doch nicht enden, das konnte ich weder ihr noch mir zugestehen, dieses Ziel, es durfte nur Etappe sein, Durchgangsstation wie Holzminden, Bochum, Bergisch-Gladbach und Heppenheim, das Laufen konnte nur dort zu Ende gehen, wo es angefangen hatte: in meinem Bett in Hamburg. Mit diesen Gedanken im Kopf lief ich am Münchener Hauptbahnhof vorbei, ließ den Intercity »Ernst Barlach« ohne mich fahren und war am Abend nicht in Hamburg, sondern in Dachau.
»KZ« — das Wort ist ein Tabu in dieser Stadt. Bauer Ludl schüttelte heftig den Kopf. »Des woa kei KZ«, belehrte er mich, als ich ihn nach dem Weg fragte, »des wo a ganz normals Gfängnis wies viele gibt auf dr Welt .« Er muß es wissen, er wohnt ja direkt an der Straße zum Lager, jeden Morgen waren die
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