Deutschland umsonst
Gefangenen in Hunderterkolonnen an ihm vorbeigekommen, um im Moor zu arbeiten. Dabei hatte er sie sich genau angesehen: »Des woan meist Kriminelle, Zigeiner , Homosexuelle und so a Zeig, ka ehrlichs Gsicht woa a net drunter .« Auch im KZ selbst hatte Ludl dann nur das gesehen, was er sehen wollte, wenn er jeden Monat dort in der Lagerküche seine Schweinehälften ablieferte. Sein Eindruck: »Die Kich , die hättest sehn solln , blitzblank, sog i dir, da hättst vom Fußboden essn kenne .« Und die dreißigtausend Toten? »Normale Sterbefälle - Typhus, Altersschwäche, umgebracht is kaner woan , das sind olles Märchen .« Nach dem Krieg war er nie wieder im Lager, von ihm aus könnten sie die Gedenkstätte niederreißen und umpflügen. »Ist doch schad um des guete Land .«
Vor dem Lager ein überfüllter Parkplatz, die meisten Autos mit ausländischen Kennzeichen. »Besuchen Sie das Dachauer Schloß«, bittet ein Schild vergeblich die fremden Besucher. Tausendzweihundert Jahre Stadtgeschichte sind ausgelöscht von zwölf bösen Jahren. Ein Pfarrer erzählte mir, daß manches Mitglied der Gemeinde sein Auto lieber in München oder Freising anmeldet, um nicht mit dem verruchten DAH-Nummernschild im Ausland schief angesehen zu werden. Mütter ziehen es vor, in München zu entbinden, damit das Wort »Dachau« nicht wie ein Kainsmal in der Geburtsurkunde des Neugeborenen steht. »Die Leute schämen sich ihrer eigenen Heimat«, sagte der Pfarrer, »sie müssen stellvertretend Buße tun für die Schuld einer ganzen Nation .«
Im Krematorium blitzten die Kameras. Eine Gruppe junger Amerikaner posierte lächelnd vor den Verbrennungsöfen. Nach dem Hofbräuhaus und der Frauenkirche nun das KZ. »Johnny was here «, steht an der Wand der Gaskammer neben Dutzenden anderer Schmierereien, eine in Hebräisch. Zweimal im Jahr muß der Raum frisch geweißt werden, trotz des dreisprachigen Hinweises: »Bitte die Wände nicht beschmutzen«.
Aber was rege ich mich über die KZ-Touristen auf, ich war ja selber einer. Was hatte ich ausgerechnet jetzt in einem KZ zu suchen, das ich zudem schon oft besichtigt hatte? Vielleicht war es der immer wieder vergeblich unternommene Versuch, die Zahlenkolonnen irgendwie fassen zu können, die mir in der Schule fünfstellig, sechsstellig, siebenstellig lehrplangemäß vorgesetzt worden waren. Vielleicht war es der immer wieder vergeblich unternommene Versuch, endlich das Unfaßbare zu begreifen. Aber das Unbegreifliche, es ließ sich nicht fassen, früher nicht und auch diesmal nicht, weil die hier ausgestellten Überreste des Grauens mir viel zu nüchtern, viel zu gegenständlich erschienen, um eine lebendige Verbindung zu dem herstellen zu können, was hier einmal geschah.
Hinter Pfaffenhofen gepfähltes Land. Die Hopfenernte ging ihrem Ende zu, als wir die Holledau durchquerten. Die letzten Felder mit den baumhohen, süßlich duftenden Lianengewächsen wurden gerade abgeerntet, übermüdete Helfer, von der wochenlangen Arbeit erschöpft, zogen ihre vollen Wagen heim. In den Dörfern heulten noch die Zupfmaschinen, deren mächtige Gebläse die kleingehäckselten Pflanzen zu grünen Bergen hinter die Scheunen bliesen. Was übrigblieb, war die stumme Monotonie einer entlaubten Hügellandschaft, durch deren nackte Telegrafenmastwälder gerade eine Feuersbrunst getobt zu sein schien.
In Eichstätt traf ich Fred, den Zimmermann aus Hamburg. Nach einer lausigen Nacht in der Obdachlosenherberge des Kapuzinerklosters, wo ich mir mit fünf Tippelbrüdern ein Matratzenlager aus vier zusammengeschobenen Betten hatte teilen müssen, wollte ich gerade die Stadt verlassen, hatte im Hospiz der Englischen Schwestern noch schnell mein Armenmittag zu mir genommen (Graupensuppe, Nieren mit zwei Semmeln), hatte beim Pförtner des Priesterseminars eine Mark Beihilfe sowie beim Bischofsamt eine Tafel Schokolade kassiert, und nun sollte es weitergehen nach Norden, ins Frankenland. Aber dann sah ich einen kleinen, braungebrannten Mann unterm wagenradbreiten Hut, in derber, schwarzer Cordweste überm weißen Hemd mit nach innen geschlagenem Kragen, in weiten Latzhosen, soliden Schuhen, den Zimmermannsbeutel lässig über der Schulter, den Knotenstock fest in der Faust — so hatte er sich mitten auf dem Marktplatz aufgestellt wie ein fleischgewordenes Denkmal des guten alten deutschen Handwerks. »Wohin des Wegs, Kamerad ?« fragte mich markig der Mann, und als ich antwortete, ich wolle nach Hamburg, da lachte er
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