Deutschlandflug
die Terrorgruppe zu leiten. Es gab nichts zu leiten; sie war noch gar nicht leibhaftig in Erscheinung getreten.
In den unbewußten Schichten seiner Beamtenseele litt Querholz an etwas, das Kenner als Dolochow-Syndrom bezeichneten. In Tolstois ›Krieg und Frieden‹ trieben Dolochow und Pierre mit einem Freund einen Bären auf, banden darauf den ersten besten Polizeiaufseher fest und warfen beide Rücken an Rücken in die Moskwa. Der Bär schwamm; der Polizeiaufseher lag oben darauf.
Die Furcht, von allen angegriffen zu werden und sich lächerlich zu machen, saß tief in ihm wie ein unheilbares Zwölffingerdarmgeschwür, das von Zeit zu Zeit seine schmerzhaften Signale aus den Eingeweiden heraufschickte.
Zu denen, die schon das Tau bereithielten, ihn auf dem Rücken des Bären festzubinden, zählte er an erster Stelle den Verkehrsminister. Ihn erlebte er jetzt in paradoxer Komplizenschaft mit den Terroristen: Beide wollten ihn auf dem Bären treiben sehen.
Sobald es in dieser Aktion etwas zu zeigen gab, würde er zeigen, wessen er fähig war. Er würde sie alle in den Sack stecken, die Klugscheißer, Sesselpuper, die Eierköpfe mit Intelligenzbremsen an der Stirn. Mochte es Sache des Darmstädter Kriminalamtes sein, zu kombinieren und Schlüsse zu ziehen … Er würde die Lösung bieten. Jason konnte der Schlüssel dazu sein.
… Der Darmstädter Kripochef kam gerade von einem Telefongespräch zurück. Man hatte die Tonbänder ausgewertet; allerdings existierten nur von der weiblichen Stimme Aufnahmen. Das Voice-Print-Verfahren konnte selbst verstellte Stimmen ermitteln. Es lieferte auf einem Papierstreifen ein charakteristisches Druckmuster der Stimme. Ähnlich wie bei Fingerabdrücken konnte man es mit bereits aufgenommenen Mustern vergleichen. Dazu gehörte allerdings, daß die Stimme bereits früher gespeichert worden war. Der Wiesbadener Computer, der alles speicherte, was in der BRD an Verbrechen greifbar war, hatte sofort Daten ausgespuckt: Ira Hagenow, Studentin, 26, Mitglied der Gruppe ›Spontaneisen‹, im Jargon ›Sponties‹ genannt.
Im neuen Flughafen war ein Raum vorhanden, von dem aus die Polizeibeamten über Datensichtstationen mit dem Wiesbadener Zentralcomputer in Kontakt kommen konnten. Querholz strich sich müde über die Stirn. Er war vertraut mit Dünnschicht, Chromatographie, Fluoreszenz-Analyse, Infrarot, Spektrographie, Gas-Chromatographie und Röntgen-Feinstruktur-Untersuchungen. Er hatte weitaus konkretere Pluspunkte als simple Namen! Es gab jemanden, den er für weitaus wichtiger als Jason hielt: Jan Kaller! Von ihm fehlte zur Zeit jede Spur; Querholz hatte sich erkundigt.
Der Polizeipräsident wußte nicht, daß Jan Kaller in diesen Minuten auf dem Wege zu ihm war.
Freiwillig.
Kaller war zwar in erster Linie Reporter. Aber er hatte sich für die Ziele der › Vereinigung Umweltschutz e.V.‹ mehr engagiert, als er zugeben wollte. Nachdem er im Fernsehen einen Teil der Eröffnungsfeierlichkeiten verfolgt hatte, packte ihn Unrast.
Verärgert und verbittert setzte sich Kaller in seinen schäbigen Deux-chevaux und jagte in Richtung Flughafen. Er fuhr ohne Sinn und Ziel und wollte weiter nichts, als sich abreagieren. Schon drängte sich ihm die Idee auf, eine Rundfahrt um den Gesamtkomplex des Flughafens zu machen. Dazu bot sich ihm die südwestliche Rückseite geradezu an. Er näherte sich von Goddelau her dem Platzrand. Das gewaltige Terminal, die Werfthallen und Zufahrtsstraßen, die Treibstofflager und Büroräume – alles war in der Nordostecke errichtet worden.
Während er Goddelau in Richtung Erfelden und Leeheim verließ, begann er zu pfeifen.
Die winzige, verlassene Nebenstraße führte durch Felder und Äcker, die mit Grünkohl, Rotkohl, Mais und Steckrüben aufwarten würden. Kiebitzschwärme taumelten durch die ginklare Luft. Er fuhr dicht hinter dem Deich des Altrheins entlang. Hier hatte noch vor wenigen Jahren tiefer Frieden geherrscht. Jetzt manifestierte sich hier in erschreckender Weise die Randindustrie eines Weltflughafens. Als sei ein Meteor eingeschlagen, brachen die Felder jäh ab, Apfelbaumgärten und Mischwälder waren halbiert, gevierteilt, einstiger Sandboden betoniert worden. Tankstellen und Parkplätze waren aus der Erde geschossen.
Nur die Möwen waren geblieben, hatten sich eher noch vermehrt und stellten eine akute Bedrohung für den Luftverkehr dar. Über die Abwanderung der Gattung larus von den Küsten ins Binnenland war von den Ornithologen
Weitere Kostenlose Bücher