Deutschlandflug
Darmstadt entfernt gelegen, wird er als Insel vom Altrhein und dem Rheindurchstich umflossen. Die Reichhaltigkeit seiner Tier- und Pflanzenwelt ist berühmt …«
Einer der Lokalreporter unterbrach: Woher der eigenartige Name stamme?
»Aus dem Altdeutschen – durch Verstümmelung und Abschleifung. Kuningskopf, als Königskopf. Königshalbinsel. Hier jagten einst nicht nur Könige und Kaiser, sondern auch der russische Zar Nikolaus, die letzte Zarin von Rußland und die Prinzessin Alice von Hessen.«
Im Gänsemarsch drängten sie sich hintereinander den schmalen Dammpfad entlang, der zwischen blühenden Obstbäumen am Gutshof vorbeiführte. Uralte Eichen, verwilderte Erlengebüsche, halb versunkene Kopfweidenauen umfingen sie. Sofort hinter dem Gutshof setzte der hundertstimmige Chor der Vögel ein: das zeternde Warnen des Gelbspötters, das mit melodischen Lauten abwechselte, das wohltönende Plaudern der Grasmücken, der monotone Rhythmus des Zilpzalps, das Djühdjüh der Waldlaubsänger und, alles lautstark übertönend, die Nachtigallen, mit ihrem schluchzenden Crescendo, ihrem rauhen Karrr, ihrem aufsprudelnden Tschuck-Tschuck-Tschuck, mit dem Schmelz ihrer phantasiereichen Strophen.
Dutzende der Gäste hatten noch nie in ihrem Leben eine Nachtigall singen hören und waren entzückt, gerührt, begeistert. Jason war ein guter, ein raffinierter Beobachter. In vielen Frauen, selbst in den emanzipierten Reporterinnen und Sekretärinnen, schien der Gesang eine Tür aufzustoßen, zurück in die Kindheit und Nostalgie einer Epoche voller romantischer Träumereien. Er nutzte die Stimmung aus:
»Dieser Gesang, dieser Frieden – in einer Woche werden über den Kühkopf die startenden Flugzeuge des neuen Flughafens hinwegdonnern. Sie werden dann keinen Vogel, nicht einmal eine einzige lautstarke Nachtigall mehr hören können. Das ganze Schutzgebiet von rund 2.500 Hektar wird in einer Orgie von Lärm versinken. Denn es grenzt unmittelbar an die Bahn 22 R und 22 L; und der größte Teil der Ab- und Anflugverfahren wird bewußt über den Kühkopf hinweggeführt.«
»Logisch!« warf einer der jüngeren Journalisten ein. »Kühkopf und angrenzende Knoblochsaue sind, bis auf die Höfe, unbesiedelt!«
Jason sah unter seinen wuchtigen Augenbrauen hervor den jungen Mann mit Schnurrbart fast liebevoll an.
»Genau jene verteufelte Logik, die unsere Erde zum Müllplaneten macht! Wir werden lernen müssen, die letzten natürlichen Landschaften unserer Erde für genauso kostbar, ja, für kostbarer zu halten als Äcker und Weiden. Zumal wir ohnehin unter landwirtschaftlicher Überproduktion leiden und jährlich Unsummen ausgeben für die Vernichtung unserer Tomaten, Gurken und Früchte.«
»Würden Sie in Ihre Umwertung aller Werte menschliche Siedlungen einbeziehen?«
»Unter Umständen ja. Sie sind nicht einmalig; sie lassen sich überall neu errichten. Dieses Vogelschutzgebiet, das größte Hessens, ist einmalig!«
Eine resolute Dame, Anfang Dreißig, Mitglied der Vereinigung, unterstützte Jason:
»Tiere lassen sich nicht verpflanzen wie Menschen. Von der Flora, von den Biotopen dieses Gebietes, gar nicht zu reden! Es sind die Menschen, die aus dem neuen Flughafen ihre Profite und Vorteile gewinnen. Sie sollten die Opfer bringen!«
»In gewissem Maße lassen sie sich doch verpflanzen. Man hat in Zürich-Kloten Experimente angestellt.«
»Ich weiß!« bestätigte Jason.
Das Klotener Ried, angrenzend an den Züricher Flughafen, beherbergte über 650 Pflanzenarten, darunter mehr als zwei Dutzend verschiedener Orchideenarten. Rotmilane, Bekassinen, ja, die Hälfte aller Schweizer Vogelarten waren dort zu Hause. Als der Flughafen erweitert werden mußte, verlagerte man kurzerhand das gesamte Ried. Im Winter 1971 gingen die ersten Quadratmeter Natur auf die Reise. 1973 war die Aktion beendet worden.
Sie wanderten weiter. Die lichten Auwälder waren übersät mit den dichten weißen Sternen der Anemonen. An anderen Stellen bedeckten die blauen Blüten des Scilla bifolia den Boden. In den feuchten Gräben blühte in riesigen Stauden Sumpfwolfsmilch. Aronstab, Bärenlauch und das aufrechte Veilchen mit seinen blaßblauen Blüten waren überall anzutreffen. Auf den Weichholzauen standen in grotesken Krüppelformen Stelzweiden mit ihren Wurzelbärten.
Über allem aber hing der hundertfältige Gesang der Singvögel, aus dem sich die Improvisationen der Nachtigallen wie Soloinstrumente aus einem Orchester hervorhoben.
Als
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