Deutschlehrerin
offen. Sie fädelt alles geschickt ein, indem sie eine Bekannte vom Landesschulrat bittet, genau diesen Schriftsteller für eine Schreibwerkstatt ihrer Schule zuzuweisen. Der Schriftsteller soll nämlich glauben, dass ihr Wiedersehen auf einem Zufall beruht.
Mathilda: Du wirst immer besser.
Xaver: Stimmt das vielleicht?
Mathilda: Könnte sein.
Xaver: Die Deutschlehrerin und der Schriftsteller verbringen eine intensive Woche miteinander, in der sie viel reden, auch streiten, sich Geschichten erzählen und sich wieder nahekommen. Dem Schriftsteller erscheint die Deutschlehrerin wie eine völlig andere Frau, geheimnisvoll, sinnlich, gelassen, stark. Sie spielen ein altes Spiel, das sie früher oft gespielt haben, jeder erzählt dem anderen eine Geschichte, »häppchenweise«, über mehrere Tage hinweg. Alles läuft nach Plan. Der Schriftsteller erzählt von seinem nächsten Roman, die Deutschlehrerin erzählt die Geschichte einer Entführung, die dem Schriftsteller immer abstruser vorkommt, man denkt dabei an Kampusch und auch an Fritzl; allerdings hat sie die Geschlechter vertauscht: Eine Frau entführt ein männliches Kind, hält es im Bunker in ihrem Keller gefangen und missbraucht es sexuell. Das brisante Detail dabei ist, dass sie es ohne Sprache aufwachsen lässt, was der Schriftsteller zunächst nicht versteht. Erst als er allmählich begreift, dass es die Geschichte seines entführten Sohnes sein muss, versteht er auch das. Die Sprache war enorm wichtig zwischen dem Schriftsteller und ihr, dem Kind soll sie vorenthalten sein. Dem Schriftsteller fällt es wie Schuppen von den Augen: Die Deutschlehrerin hat damals aus Rache seinen Sohn entführt! Er rastet völlig aus, schreit herum, er will sofort zur Polizei, die Deutschlehrerin hält ihm plötzlich die Walther 9 ihrer Tante Maria unter die Nase und will mit ihm in den Keller gehen. Der Schriftsteller hat Angst, dass sie ihn ebenfalls in den Bunker sperren wird. Es kommt zu einem Gerangel, in dem der Schriftsteller die Pistole an sich reißen kann und er in Notwehr die Deutschlehrerin erschießt. Wie von Sinnen läuft er in den Keller, um seinen Sohn aus dem Bunker zu befreien, und –
Mathilda: Und?
Xaver: Er findet gar keinen Bunker, die Geschichte war tatsächlich erfunden! Was er findet, ist das Buch Der Graf von Monte Christo , dieser enorme Racheschinken von Dumas, den sie als Jugendliche verschlungen hat. Das Buch soll ihm zeigen, dass er einem ausgeklügelten Racheplan zum Opfer gefallen ist. Außerdem findet er einen Abschiedsbrief, in dem sie ihm noch einmal ihre große Liebe gesteht und ihre enorme Verletzung beschreibt.
Mathilda: Der Brief ist äußerst pathetisch.
Xaver: Das versteht sich von selbst. Die Deutschlehrerin liegt also blutüberströmt in ihrem stilvoll eingerichteten Wohnzimmer und stirbt, auf ihren Lippen der Name des Schriftstellers. Sie wollte den qualvollen Tod nicht abwarten, wollte von ihm erschossen werden, quasi durch seine Hand sterben. Außerdem hat sie ihre Rache, der Schriftsteller kommt nämlich wegen Mordes ins Gefängnis. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
Mathilda: Grandioser Schluss. Und wo ist das entführte Kind?
Xaver: Das weiß immer noch niemand. Auf alle Fälle ist es nicht im Bunker der Deutschlehrerin.
Mathilda: Warum kann der Junge nicht im Bunker der Deutschlehrerin sein?
Xaver: Weil sie ihn nicht entführt hat.
Mathilda: Und warum hat sie ihn nicht entführt? Sag es mir, Xaver!
Xaver: Die Frage lautet: Wozu ist der Mensch fähig? Sie war offensichtlich nicht fähig dazu. Sie wollte ihn entführen, hat es sich hundert Mal vorgestellt, in ihrer Fantasie ausgemalt, konnte es aber nicht.
Mathilda: War es nicht auch die Vermutung des Schriftstellers? Hat er nicht der Polizei den Tipp gegeben, seine Exfreundin, die Deutschlehrerin, könnte Jakob entführt haben, aus Rache, weil er sie verlassen hat?
Xaver: Mathilda –
Mathilda: Zumindest hat die Polizei das ihr gegenüber angedeutet, als sie vor vierzehn Jahren bei ihr aufgetaucht sind und sie zum Verhör mitgenommen haben und ihr ganzes Haus auf den Kopf gestellt haben.
Xaver: Mein Gott, Mathilda, das tut mir so leid! Ich habe nichts davon gewusst, das musst du mir glauben! Den Tipp haben sie nicht von mir bekommen, sie werden sich das selbst gedacht haben.
Mathilda: Möchtest du mir nicht den richtigen Schluss erzählen, bevor ich dich zur Polizei begleite? Das hat doch keinen Sinn! Du wirst weiterhin nicht zur Ruhe kommen, dein ganzes Leben
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