Dexter
biss sich auf die Lippe und stand auf, dann verschwand sie durch die Tür, nicht annähernd so kühl und gefasst wie bei ihrem Eintreten. Deborah lehnte sich im Stuhl zurück und wand sich ein wenig, als suchte sie eine bequeme Haltung. Sie fand keine. Nach einer Weile gab sie auf, setzte sich aufrecht hin und schlug ungeduldig die Beine übereinander.
Meine Schulter war wund gelehnt, und ich versuchte es mit der anderen. Minuten verstrichen; Deborah blickte zwei- oder dreimal zu mir auf, aber keiner von uns hatte etwas zu sagen.
Endlich hörten wir Stimmen hinter der Tür, die an Höhe und Lautstärke zunahmen. Das dauerte ungefähr eine halbe Minute, dann war es wieder relativ ruhig. Nach mehreren langen Minuten, während derer Deborah mehrmals die Beinstellung wechselte und ich zur Ursprungsschulter zurückkehrte, hastete Ms. Stein wieder in ihr Büro. Sie war noch immer bleich und wirkte nicht besonders glücklich.
»Tyler Spanos ist heute nicht erschienen«, verkündete Ms. Stein. »Gestern auch nicht. Deshalb habe ich bei ihr zu Hause angerufen.« Sie zauderte.
»Ist sie krank?«, erkundigte sich Deborah.
»Nein, sie …« Wieder zögerte Ms. Stein und kaute auf ihrer Lippe. »Sie … sie hat mit einer anderen Schülerin an einem Klassenprojekt gearbeitet. Angeblich hat sie bei dem anderen Mädchen übernachtet.«
Deborah fuhr vom Stuhl hoch. »Samantha Aldovar«, sagte sie, und es war keine Frage.
Ms. Stein antwortete trotzdem. »Ja. So ist es.«
[home]
7
A ngesichts der Gesetze, auf die jede Schule sich berufen kann, um ihre Schüler vor offizieller Belästigung zu schützen, sowie dem Einfluss, über den Eltern und Ehemalige einer Schule wie der Ransom Everglades verfügen, hätte es für uns äußerst schwierig werden können, in den Besitz von Informationen über das zu gelangen, was jetzt ein doppeltes Verschwinden war. Doch die Schule entschied sich für den Königsweg und nutzte die Krise als eine praktische Übung. Man installierte uns erneut in dem Büro mit den überfrachteten Wänden, während Ms. Stein davonschoss und Lehrer und Verwaltungsangestellte alarmierte.
Ich sah mich im Zimmer um und stellte fest, dass sich die Anzahl der Stühle nicht verändert hatte. Meine Stelle an der Wand schien nicht länger fürchterlich einladend. Deshalb entschied ich, dass unsere Bedeutung angesichts der Gegebenheiten um einige Grad gestiegen war, da nun zwei Schülerinnen verschwunden waren und ich, kurz gesagt, jetzt zu wichtig war, um an der Wand zu lehnen. Immerhin stand ein zweiter, äußerst bequemer Stuhl im Zimmer.
Ich hatte gerade auf Ms. Steins Stuhl Platz genommen, als mein Handy klingelte. Ich warf einen Blick aufs Display, das einen Anruf Ritas anzeigte. »Hallo?«
»Hi, Dexter, ich bin’s.«
»Das hatte ich angenommen«, versicherte ich.
»Was? Oh. Egal. Hör mal«, forderte sie mich auf, was überflüssig schien, denn ich tat es bereits. »Der Arzt sagt, ich darf nach Hause. Könntest du uns abholen?«
»Du darfst
was?
«, erwiderte ich verblüfft. Schließlich war Lily Anne gestern erst auf die Welt gekommen.
»Nach Hause«, wiederholte sie geduldig. »Wir dürfen jetzt nach Hause.«
»Das ist viel zu früh.«
»Der Arzt ist einverstanden«, widersprach sie. »Dexter, ich kenn mich damit aus.«
»Aber Lily Anne – sie könnte sich etwas einfangen, oder der Kindersitz …«, brabbelte ich, und mir wurde bewusst, dass die Vorstellung, Lily Anne könnte die Sicherheit des Krankenhauses verlassen, mich so in Panik versetzte, dass ich schon redete wie Rita.
»Es geht ihr bestens, Dexter, und mir auch«, versicherte diese. »Und wir möchten gern nach Haus, also würdest du uns bitte abholen, okay?«
»Aber Rita«, wandte ich ein.
»Wir warten auf dich«, sagte sie, »tschüss.« Und sie legte auf, ehe ich einen vernünftigen Grund dafür hätte anführen können, warum sie das Krankenhaus noch nicht verlassen sollte.
Einen Augenblick starrte ich mein Handy an, dann veranlasste mich der Gedanke an Lily Anne draußen, in einer Welt voller Bakterien und Terroristen, in hektische Aktivität auszubrechen. Ich rammte das Handy in sein Halfter und sprang auf. »Ich muss los«, erklärte ich meiner Schwester.
»Ja, hab ich mitgekriegt.« Sie warf mir den Autoschlüssel zu. »Komm so schnell wie möglich wieder her.«
Ich fuhr in Miami-Manier nach Süden, also schnell, fädelte mich durch den Verkehr, als gäbe es keine Fahrspuren. Normalerweise war mein Stil nicht so
Weitere Kostenlose Bücher