Dezembergeheimnis
den Wagen zog er sich seinen Schal wieder ins Gesicht und joggte zum großen Eingang.
Kaum bei ihr angekommen, zog sie ihn am Ärmel seiner Jacke ins Innere der Bibliothek. Mit einem lauten Schallen fiel die Tür neben ihnen ins Schloss, während Noel sich ihre alte, gehäkelte Wollmütze vom Kopf strich und breit lächelte. Sein Gesicht strahlte eine solche Freude aus, dass sie für einen kurzen Augenblick wie paralysiert war und kein Wort heraus brachte. Immerhin hatte er sich übervorsorglich angezogen: Winterstiefel, Jeans, Jacke, Handschuhe, Schal und Mütze – es war kaum ein Zentimeter freie Haut zu sehen.
»Das war ja einfach. Ich hab gedacht, ich würde ewig nach dir suchen müssen.« Er stockte kurz, verwundert über sein Echo, doch sein Blick verweilte nur ganz kurz in der Weite des Raumes. »Ich hab mir Sorgen gemacht, als ich gegen Mittag gemerkt hab, dass dein Wagen noch auf dem Parkplatz steht. Ich dachte, ich bringe ihn dir lieber.«
Wieder hallte seine Stimme durch den gesamten Eingangsbereich, was Lea schließlich aus der Schockstarre löste. Die Zähne aufeinander gepresst, ballten sich ihre Hände zu Fäusten und sie funkelte ihn an.
»Was in Gottes Namen fällt dir ein? Wie kommst du dazu, meinen Wagen zu fahren? Was machst du hier?« Diese Erklärung konnte nicht sein Ernst sein. Noch hatte ihn keiner gesehen, deswegen schnappte sie ihn erneut am Ärmel und zog ihn zwischen die nächstliegenden Regale der aktuellen Zeitschriften.
»Bist du böse?«
Lea fuhr herum und stieß die Luft durch die Nasenlöcher aus. »Ja, verdammt, natürlich! Das kann doch nicht dein Ernst sein, du kannst dich doch nicht einfach in meinen Wagen setzen, du hast doch nicht mal einen Führerschein! Wie kommst du nur immer auf solche Ideen? Mit meinem Auto zu
fahren
! Du kannst doch überhaupt nicht fahren! Dir hätte sonst was passieren können, es ist ein Wunder, dass du überhaupt hergefunden hast! Wie hast du überhaupt hergefunden? Oh Gott, was alles hätte passieren können, ich will gar nicht dran denken. Wenn du einen Unfall gebaut hättest … wenn irgendjemandem etwas passiert wäre! Wenn
dir
etwas passiert wäre!«
Noel ließ sie einfach reden und beobachtete, wie sie sich die Haare raufte.
»Es ist aber nichts passiert. Ich kann fahren«, sagte er schließlich. Das ließ sie innehalten.
»Ach, kannst du also?« Lea stemmte die Hände in die Hüfte. »Gehört das seit neuestem auch zur Standardausrüstung?«
Zu ihrer Überraschung sah er dieses Mal gar nicht traurig darüber aus, dass sie sein Erscheinen nicht freute. Viel mehr zog er die Augenbrauen zusammen und verengte die Augen, als er antwortete. »Ich bin ein Mann und ich weiß, wie ein Auto funktioniert.«
Lea konnte sich ein kleines Lachen nicht verkneifen, als sie auf die Wand Richtung Parkplatz deutete, wo ihr Wagen nur haarscharf einem Totalschaden entkommen war. »Aber offensichtlich nicht, wie man einparkt.«
Er steckte die Hände in die Hosentaschen, nur um sie gleich wieder hervor zu ziehen und die Arme zu verschränken. »Ich … ich wollte dir nur helfen. Du weißt doch, dass ich noch lerne, warum bist du dieses Mal so böse?«
»Warum ich dieses Mal …?«, wiederholte sie und ließ langsam die Arme und Schultern sinken. »Weil dir dieses Mal wirklich etwas hätte passieren können. Du hättest dich ernsthaft verletzen können! Dich und andere! Es ist ein Wunder, dass du unversehrt hier angekommen bist. Du hilfst mir garantiert nicht, indem du solche Stunts hinlegst. Wenn ich ab jetzt immer Angst haben muss, dass du so was machst, wenn ich nicht da bin … dann müsste ich mir ja nur noch Sorgen machen! Wie um ein kleines Kind.«
»Ich bin aber kein Kind!« Seine Stimme war so harsch, dass Lea zurück zuckte.
Das hier war falsch.
»Hör auf, so was zu sagen«, fügte er leiser hinzu und klang dabei wieder eher wie ihr Noel. Er streckte die Hand nach ihr aus und obwohl ein kleiner Teil sie am liebsten weggeschlagen hätte, griff sie sie. Die kleine Berührung versicherte ihr, dass er ihr nicht wirklich böse war, trotzdem hatte sie Angst. Das war keine Situation, die sie vor ihrem geistigen Auge schon mal durchgespielt hatte.
»Ich weiß, dass du nur sauer bist, weil du dir Sorgen um mich machst. Aber bitte tu das nicht, weil du denkst, du müsstest auf mich aufpassen. Ich bin kein Kind, Lea. Ich bin ein Mann. Ich mag nicht alles wissen und noch nicht alles können, aber das ändert nichts an dem, was ich bin. Wie
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