Dezembergeheimnis
dämmerte.
»Lass uns nach Hause fahren«, entschied Noel leise, bevor er um den Wagen herum ging und Lea die Tür öffnete. Sie versuchte sich an einem Lächeln, doch es erinnerte mehr an halbseitige Gesichtslähmung.
Auch am nächsten Tag fuhr Lea Noel zur Bäckerei. An diesem Morgen schloss nicht die großmütterliche Besitzerin, sondern eine junge Frau mit krausen, braunen Locken auf. Sie war fast so groß wie Noel, sehr schlank und hatte bezaubernde Sommersprossen, die Lea sogar vom Auto auserkennen konnte. Lea wollte nicht eifersüchtig sein, aber sie konnte die Falte auf der Stirn nicht wegstreichen.
»Hör auf damit«, flüsterte sie zu sich selbst und winkte Noel zu, der noch ein »Bis nachher!« mit den Lippen formte, das die Falte wie ein Schwamm einfach wegwischte und sogar noch ein Lächeln dazu zauberte.
In der Bibliothek war sie die Erste. Das war zwar selten, kam aber durchaus ab und zu vor. Sie hatte sich eine etwas frühere Schicht geben lassen, damit sie nicht extra noch einmal nach Hause fahren musste. Durch Noel war sie ohnehin wach und so hatte sie gleich etwas früher Feierabend – und was gab es Besseres als einen frühen Feierabend? Sie schloss alle notwendigen Türen auf und startete die Computer an den Infoschaltern und Ausleihtheken. Ihre anderen Kollegen trudelten nach und nach ein, bis sie die Türen für die Kunden öffneten.
Ihr Tag begann mal wieder mit einer Schicht am Schalter und erneut kramte sie ihr Notizbuch hervor. Sie hatte lang nicht mehr geschrieben, aber heute war ihr danach. Den Kuli gezückt, ignorierte sie das Starren des Obdachlosen, der wie jeden Tag in dem warmen Gebäude Zuflucht vor dem winterlichen Wetter suchte und sich dabei immer genau vor den Tresen setzte und die Bibliothekare anstarrte.
»Ah, Sie schreiben also wieder, Frau Wegener«, schreckte eine Stimme sie etwa eine halbe Stunde später auf. Als Lea eilig den Kopf hob, erkannte sie Frau Löwenberger vor sich, ihre Chefin. Mit roten Wangen strich sie sich schnell die Haare aus dem Gesicht, schlug das Buch wieder zu und versteckte es unter dem Tresen.
Edith Löwenberger war eine schöne Frau, der man ihr Alter nicht ansah; Lea hatte sie anfangs sogar auf Ende Dreißig geschätzt. Ihre wasserstoffblonden Haare trug sie in einem sauber geschnittenen Pagenschnitt, dazu eine aufsehenerregende Brille in Rot. Zugegeben, auf den ersten Blick wirkte sie wie eine unerträgliche Zicke oder die erwartungsgeladene Mutter der Schuloberstreberin, die nicht wusste, wie sie das Geld ihres Mannes am schnellsten ausgeben sollte – und manchmal verhielt sie sich auch genau so. Aber Lea hatte in den vergangenen Monaten gelernt, dass ihren grau-blauen Adleraugen nicht nur nichts, aber auch gar nichts entging, sondern dass hinter ihnen auch ein sehr weicher Kern steckte. Den man gelegentlich vielleicht auch etwas suchen musste.
»Ich freu mich, dass Sie wieder angefangen haben. Mir haben Ihre Kurzgeschichten damals sehr gefallen.«
Ach du Schande, das hatte sie ja völlig vergessen. Richtig, als Lea hier angefangen hatte, war sie von der Verlagssache immer noch so aufgewühlt gewesen, dass sie ihre Geschichten sogar ihrer neuen Chefin gezeigt hatte.
»Ähm, danke«, murmelte sie und war nur noch mehr damit beschäftigt, ihre Haare hinter die Ohren zu streichen, während sie stur auf die gemaserte Holzoberfläche vor sich starrte.
»Aber es wäre trotzdem schön, wenn Sie Ihrer Kreativität zu Hause nachgehen würden anstatt in Ihrer Arbeitszeit.«
»Ja. Ja, natürlich.« Lea nickte schnell und fühlte, wie sie immer kleiner wurde. Wo waren die schwarzen Löcher im Boden, wenn man sie mal brauchte? Sie schielte nach oben, bis sie Frau Löwenberger ins Gesicht sehen konnte. Die Blonde lächelte, ehe sie ihr zuzwinkerte und in ihrem Büro verschwand. Erleichtert atmete Lea aus und schlug ihr kleines Büchlein wieder auf. Sie las sich die letzten Zeilen durch, bis sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen schlich, sie es wieder zuklappte und wegsteckte.
Maria hingegen kam zu spät. Maria war noch nie zu spät gekommen. Ihre Haare sahen noch schlimmer aus als am Vortag und dieses Mal hatte sie sich nicht mal die Mühe gemacht, die Augenringe unter Makeup zu verstecken. Sie erledigte zwar ihre Arbeit, jedoch mit der Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfischs und redete dabei nur, wenn man sie dreimal ansprach. In der Pause zog Lea sie auf die Mitarbeitertoilette und dort in ihre Arme, wo sie erneut anfing zu weinen. Wieder
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