Dezembersturm
stehen.
Onkel Thomas hatte ein zentral gelegenes Hotel mit mehr als zweihundert Zimmern gewählt, in dem Tag und Nacht ein lebhaftes Kommen und Gehen herrschte, da in diesem Haus vor allem Kaufleute und Geschäftsreisende abstiegen. Diese Leute übernachteten nicht nur hier, sondern empfingen auch Kuriere, Geschäftspartner oder Handelsagenten. Deswegen hielt Lore das Hotel für einen Ort, an dem sie leicht von Rupperts Spionen beobachtet werden konnten. Sie hatte entsetzliche Angst und war ständig auf der Hut. Als Onkel Thomas sie deswegen zur Rede stellte und ihr vor Augen führte, dass er in jeder Hinsicht für ihrer aller Sicherheit gesorgt habe, bekam sie einen Wutanfall, wie man ihn sonst nur von Nati gewöhnt war.
»Und was ist, wenn Ruppert das Testament stehlen lässt und versucht, Nati durch einen künstlich herbeigeführten Unfall umzubringen?«
»Das Testament ruht, solange wir hier in England sind, im Tresor einer großen, gutbewachten Bank. Außerdem ist ein Brief an die Bremer Rechtsanwälte der Familie Retzmann unterwegs, in dem ich die Situation geschildert habe. Ich weiß allerdings nicht, ob dieses Schreiben auf einen Erbschaftsprozess Einfluss habenkönnte, denn die preußischen oder vielmehr neuen deutschen Reichsgesetze sind meines Erachtens nicht so eindeutig und so streng wie unsere alten Bremer Bestimmungen. Außerdem setzen sie große Teile der Familiengesetze des Adels außer Kraft – sonst hätte Ruppert von vornherein keine Chance, das Erbe der Retzmanns antreten zu können.
Ich glaube übrigens nicht, dass der Mann, wie du behauptest, verrückt ist. Er denkt nur, er könne alles erreichen, was er sich in den Kopf gesetzt hat. Doch dazu werde ich ihm nicht die geringste Chance geben. Du aber sollst dir dein Köpfchen über diese Angelegenheit nicht weiter zerbrechen. Ich will, dass du fröhlich und so unbeschwert wie möglich bist. Dann ist Nathalia es nämlich auch. Du musst dafür sorgen, dass das Kind die schrecklichen Erlebnisse so bald wie möglich vergisst, und das geht nur, wenn du es ihr vorlebst. Verstehst du, was ich meine? Du kümmerst dich nur noch um Nati und bist ihr eine aufmunternde Gefährtin. Der Rest ist ganz allein meine Angelegenheit.«
Nach einer kurzen Pause nickte Lore. »Ich will ebenfalls, dass Nati eine glückliche Weihnachtszeit erlebt«, sagte sie und reichte Onkel Thomas die Hand.
Der nahm sie erfreut und schüttelte sie. »Dafür verspreche ich dir auch etwas: Ich habe mich entschlossen, nicht mit dem Schiff bis Bremen zu fahren, sondern nur über den Kanal überzusetzen. Ich denke, Nati dürfte im Augenblick ebenso wenig an einer längeren Schiffsreise interessiert sein wie du. Leider wird sich unser Aufenthalt in London noch bis weit in den Januar hineinziehen, und dann habe ich noch einiges für den NDL in Southampton zu erledigen. Wir bekommen dort einen eigenen Kai für unsere Bremen-Amerika-Linie, so dass unsere großen Dampfer die gefährliche Themsemündung meiden können. Von Südengland aus nehmen wir, wenn ich alles erledigt habe, eine Passage nach Frankreich und fahren von dort aus mit Postkutschen und – sooft es auf dem Wegnach Bremen möglich ist – mit der Eisenbahn. Ist das ein Vorschlag?«
»O ja! Da bin ich aber froh!« Lore nickte erleichtert. Der Gedanke an eine erneute längere Schiffsreise hatte ihr doch schwer im Magen gelegen.
Dann blickte sie Thomas Simmern erstaunt an. »Du sagst, du musst bis in den Januar hinein in London bleiben. Heißt das, wir feiern Weihnachten hier im Hotel?«
»Ja, aber auf englische Art! Mit Mistelzweig, einem Truthahn, Plumpudding und allem, was sonst noch dazugehört. Mary hat mir schon aufgeschrieben, was ihr euch so wünscht, und ich hoffe, ihr werdet mit euren Geschenken zufrieden sein. Ich habe während der Feiertage keine Sitzungen und kann mich daher ganz und gar euch und dem Fest widmen.«
»Au fein!«, sagte Lore. »Das wird Nati freuen! Vielleicht wird es ihr ein wenig über den Verlust ihres Großvaters hinweghelfen.«
»Nun, ich hoffe, du wirst dich auch freuen und mir einen Tanz gewähren!«
»Tanzen die Engländer zu Weihnachten?«, fragte Lore.
»Ja, das tun sie, und eine Dame, die unter den Mistelzweig gerät, bekommt einen Kuss.«
»Nun, ich bin keine Dame, sondern nur ein armes Mädchen, das einem adeligen Kind Gesellschaft leistet, und die werden nicht geküsst!«, lachte sie und ging mit schwingenden Röcken aus dem Zimmer. Dabei stellte sie sich vor, wie es wäre,
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