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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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mit Onkel Thomas zu tanzen und ihn dabei zu küssen, und hoffte mit einem Mal, es würde wirklich dazu kommen.

VII.
     
    Lore hielt sich an ihr Versprechen, Nati eine heitere Gefährtin zu sein, und sie stellte zu ihrer eigenen Überraschung fest, dass es ihr gar nicht so schwerfiel. Teilweise lag es daran, dass sie immer besser mit der englischen Sprache zurechtkam, zum anderen aber legte sie allmählich ihre Befürchtung ab, die vielfältigen Vergnügungen könnten sie von ihren Pflichten ablenken. Tatsächlich wirkte auch Nati viel unbeschwerter, und sie wachte nicht mehr jede Nacht weinend auf. Es war, als fielen die schrecklichen Erlebnisse von dem Kind ab wie eine alte Haut.
    Zwei Tage vor Weihnachten kam Konrad auf Lore zu, während sie darauf warteten, dass die Kutsche vorfuhr, und bedankte sich bei ihr. »Verehrtes Fräulein Lore, ich glaube, ich habe unseren kleinen Engel noch nie so brav und so fröhlich gesehen wie in Ihrer Gesellschaft. Unsere kleine Prinzessin lebt richtig auf!«
    »Nun, ich glaube, das ist auch Marys und Prudence’ Verdienst«, gab Lore zurück und musste kichern, weil Nati darauf bestand, Marys Rollstuhl zu schieben, was von einem der Hotelpagen mit einem indignierten Blick quittiert wurde. »Aber ich fürchte, ihre vornehme Erziehung leidet ein wenig unter unserem Übermut.«
    Ein leichter Schatten flog über Konrads Miene. »Um Natis Erziehung wird sich ihre Großtante Ermingarde kümmern, wenn wir wieder in Bremen sind. Sie müssen dann besonders gut aufpassen, damit unser Schatz das Lachen nicht wieder verlernt. Jetzt, da der alte Herr tot ist, wird sich wohl die ganze angeheiratete Verwandtschaft im Stadthaus der Retzmanns einquartieren, um wenigstens auf diese Weise von dem reichen Erbe profitieren zu können. Ich sage Ihnen eines, Fräulein Lore: Lassen Sie sich von denen nichts bieten! Im Zweifelsfall holen Sie sich bei Herrn Simmern Rat und Rückendeckung! Übrigens – wir holen heute zuerst den Käpt’nbeim Kontor des NDL ab. Er will mit uns speisen und uns dann ins Theater begleiten.«
    Als Nati den letzten Satz vernahm, brach sie in wilden Jubel aus. Dabei stieß sie den Rollstuhl so stürmisch herum, dass Mary glatt hinausgefallen wäre, hätte Konrad sie nicht im letzten Moment aufgefangen. Lore bemerkte die vielsagenden Blicke, die die beiden dabei tauschten. Sollte sich da womöglich etwas anspinnen? Auf alle Fälle würde sie ein Auge auf die beiden haben. Sie gönnte Mary die Möglichkeit, trotz ihrer Behinderung einen guten Ehemann zu finden, auch wenn dadurch aus ihren Plänen, gemeinsam einen Modesalon zu erö?nen, nichts werden konnte.
    In dem Augenblick meldete ein Page die Ankunft der Kutsche. Während Nati sofort losrannte und Konrad Mary mit dem Rollstuhl hinausfuhr, folgte Lore ihnen in Gedanken versunken. Sie beschäftigte sich so intensiv mit einer möglichen Zukunft von Mary und Konrad, dass sie wenig später im Kontor des Norddeutschen Lloyd einen Mann anrempelte.
    »Entschuldigen Sie vielmals«, sagte sie. Dann erst sah sie ihm in das Gesicht und erstarrte. Es war Edwin, einer von Rupperts Hand langern aus dem Cottage, in dem Nati und sie gefangen gehalten worden waren.
    Er erkannte sie ebenfalls und fixierte sie mit einem höhnischen Blick. Dabei bewegte er die Lippen, als wolle er etwas sagen.
    Seinem Gesichtsausdruck nach konnte es nur eine Drohung sein. Jetzt hat Ruppert uns gefunden!, fuhr es Lore durch den Kopf. Panikerfüllt rannte sie davon, sah dann von der anderen Seite Thomas Simmern herankommen und klammerte sich an ihm fest.
    »Dort ist Edwin, einer von Rupperts Schurken!«, stieß sie atemlos hervor und wies auf die Stelle in der Halle, an der sie den Mann erblickt hatte. Doch dort war jetzt niemand mehr zu sehen.
    »Bist du sicher?«
    »Es war Edwin! Ich habe ihn ganz genau gesehen. Eben war er noch hier. Er muss von dort gekommen sein«, sprudelte Lore heraus. Sie sah sich suchend um und deutete dann zur Eingangstür.
    »Da drüben läuft er! Der Mann mit der komischen Wollmütze und dem Schal darüber. Jetzt verschwindet er gerade durch die Tür!«
    Onkel Thomas schob sie sanft Prudence in die Arme, die erschrocken näher gekommen war, und lief zur Eingangstür. Edwin sah ihn kommen und begann zu rennen. Da die Doppelflügeltür aus solidem Holz ohne Glaseinsätze bestand, konnte Lore nicht sehen, was draußen geschah. Aber sie machte sich keine großen Hoffnungen. Mit seinem feinen Schuhwerk hatte Onkel Thomas auf dem rutschigen

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