Dezembersturm
zitternden Fingern klopfte sie an. Etliche Sekunden tat sich nichts, und sie überlegte schon, noch einmal und diesmal kräftiger zu klopfen. Da hörte sie drinnen Schritte. Die Tür schwang auf, und eine magere Frau in einem gutgeschnittenen Kleid aus geblümtem Stoff blickte heraus. Sie schätzte Lore mit einem ebenso raschen wie scharfen Blick ab und kam innerhalb weniger Herzschläge zu der Überzeugung, keine neue Kundin vor sich zu sehen. Ihre zunächst devote Miene verschwand, und sie blickte das Mädchen hochmütig an.
»Was willst du?«
»Ich will mit Madame de Lepin sprechen, denn …«
»Ich bin Madame de Lepin.«
»Es ist so … Ich kann gut nähen, und da wollte ich fragen, ob ich für Sie arbeiten kann.« Lore sprudelte es ohne Punkt und Komma heraus, denn sie wusste, dass sie kein zweites Mal mehr den Mut dazu aufbringen würde. Um Madame de Lepin davon zu überzeugen, dass sie nähen konnte, öffnete sie die Tasche und zeigte ihr die Bluse.
Die Schneiderin hatte Lore des schlichten schwarzen Kleides wegen für einen einfachen Landtrampel gehalten, der gerade mal gut genug war, mit einer großen Nadel einen groben Kittel auszubessern. Doch als sie den feinen Stoff der Bluse unter ihren Fingern spürte und die zierlichen Nähte sah, wandelte sich ihre Miene. Der arrogante Ausdruck verschwand und machte einer geschäftsmäßigen Freundlichkeit Platz. »Komm herein!«, forderte sie Lore auf und führte sie in ihre Geschäftsräume. Sie durchquerte den Empfangssalon, in dem sie ihre Kundinnen begrüßte, und schob Lore in das kleinere Nähzimmer.
Die beiden jungen Frauen, die dort, über ihre Arbeit gebeugt, saßen, blickten nur kurz auf und widmeten sich sofort wieder Stoff und Nadel. Ohne sie zu beachten, trat Madame de Lepin ans Fenster und kontrollierte Lores Bluse sorgfältig bei Tageslicht. Als sie fertig war, nickte sie zufrieden. Das Kleidungsstück war von kundiger Hand genäht worden, und das war wichtig in einer Zeit, in der gewöhnliche Kleidung mehr und mehr mit Nähmaschinen gefertigt wurde. Die höheren Damen der Gesellschaft aber legten Wert auf kunstvolle Nähte.
Sie wandte sich zu Lore um. »Zieh die Bluse an. Ich will sehen, wie sie dir steht.«
Lore gehorchte, obwohl sie dafür ihr Kleid ausziehen musste und im Unterrock vor der Frau stand. Diese ging um sie herum und prüfte den Sitz der Bluse.
»Wie es aussieht, bringst du wirklich etwas zustande. Ich kann dich derzeit aber nur ein paar Stunden am Tag beschäftigen, denn ich will deinetwegen keine meiner bewährten Kräfte entlassen.«
Lore begriff, dass die Schneiderin glaubte, sie wolle als richtige Näherin in ihre Dienste treten, und schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie, Madame, aber ich kann nicht in der Stadt arbeiten. Haben Sie denn nichts, was ich zu Hause nähen kann?«
Madames Augen leuchteten erfreut auf. Eine Heimarbeiterin erhieltweniger Lohn als eine angestellte Näherin, und sie konnte sie von einem Tag zum anderen wegschicken. »Möglich wäre es. Aber bevor ich mich entscheide, will ich selbst sehen, was du kannst. Luise, hole das Kleid für die Frau Kreisdirektor.«
Eine der beiden Näherinnen legte ihre Arbeit zur Seite, verschwand in der Kammer und kehrte mit einem fast fertigen Kleid zurück, an dem nur noch der Kragen fehlte. Madame de Lepin nahm es entgegen und hielt es Lore hin.
»Traust du dir zu, den Kragen anzunähen?«
Lore starrte auf das hübsche Kleid und kämpfte mit der Angst, etwas falsch zu machen. Wenn sie jedoch ablehnte, konnte sie sofort wieder gehen, und dafür hatte sie nicht den weiten Weg zurückgelegt. Daher nickte sie mit verbissener Miene, zog wieder ihr Kleid an und setzte sich auf den Stuhl, den Madame ihr wies. Beim ersten Stich zitterten ihre Hände noch ein wenig. Doch schon bald nahm die Arbeit sie ganz in Anspruch. Die Angst kehrte erst wieder zurück, als sie Madame das fertige Kleid reichte.
Die Schneiderin musterte die Arbeit kritisch und fand, dass sich keine ihrer Angestellten mit diesem Mädchen messen konnte. Nach einigen für Lore qualvollen Augenblicken nickte sie und reichte Luise das Kleid mit dem Befehl, es wieder in den Nebenraum zu bringen. Dann blickte sie Lore so hochmütig an, dass diese das Gefühl bekam, hässlich und klein zu sein. »Ich werde es mit dir versuchen. Du kommst einmal in der Woche zu mir, bringst die fertigen Sachen und nimmst neue Arbeit mit. Dafür zahle ich dir einen Kuranttaler im Monat. Bist du damit einverstanden?«
Die beiden
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