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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Summe nur einen Bettel dar, aber ihr würde schon ein kleiner Teil helfen, ihren Großvater mit kräftiger Kost zu versorgen.
    Der Gutshof Trettin lag etwa eine Viertelstunde zu Fuß vom gleichnamigen Dorf entfernt auf einer kleinen Anhöhe und wirkte mit seinem großen, zweistöckigen Hauptgebäude und den wuchtigen Ställen und Scheuern sehr imposant. In jenen Zeiten, in denen ihr Großvater noch als unumschränkter Herr auf dem Gut regiert hatte, war Lore hier regelmäßig aus und ein gegangen, und damals hatte sie das Portal benützen können. Das wagte sie jedoch nicht mehr. Sie ging um das Haus herum zu dem Lieferanteneingang, einer Nebenpforte in der Nähe der Gutsküche, und klopftezaghaft. Eine Magd, die ihr früher oft kleine Leckerbissen zugesteckt hatte, öffnete und musterte sie mit einem so verächtlichen Blick, als wäre sie eine schmutzige Bettlerin.
    Lore raffte ihren ganzen Mut zusammen und blickte der Frau ins Gesicht. »Ich muss mit Herrn Ottokar sprechen.«
    »Der Herr ist abwesend«, antwortete die Magd und wollte Lore die Tür vor der Nase zuschlagen. Da tauchte Malwine von Trettin auf und scheuchte die Frau fort.
    Als die Schritte der Magd verhallt waren, stemmte Malwine die Arme in die Seiten und blickte Lore von oben herab an. »Was hast du hier zu suchen? Dein Platz ist doch bei dem alten Krüppel in der Forsthütte.«
    Lore musste sich zusammennehmen, um nicht umzudrehen und einfach davonzulaufen. Doch ohne einen einzigen Groschen in der Tasche konnte sie weder Lebensmittel kaufen noch Elsie bezahlen. Daher raffte sie allen Mut zusammen. »Ich bin gekommen, um das Geld zu holen, das meinem Großvater zusteht. Der Gutsherr schuldet ihm die Zahlungen für das letzte Vierteljahr.«
    Frau Malwine lachte schallend auf. »Hat der Alte dich geschickt? Du kannst ihm sagen, er erhält keinen einzigen Taler mehr von uns. Er hat dem Gut genug Geld gestohlen! Soll er doch davon leben.« Dann schlug sie die Tür zu und kehrte händereibend in ihr Zimmer zurück. Nun würde der alte Trettin wissen, woran er war, und an seine geheimen Geldvorräte gehen müssen. Es konnte nicht lange dauern, und sie würden endlich an das Vermögen kommen, das ihnen zustand.
    Lore schauderte unter dem hasserfüllten Blick der Gutsherrin und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Wie kann ein Mensch nur so niederträchtig sein, einem Kranken die Unterstützung zu verweigern?, fragte sie sich. Sie glaubte keinen Augenblick daran, ihr Großvater besäße irgendwo Geld, und nahm sich vor, ihm nichts von dieser Anschuldigung zu berichten.
    Es tat ihr bitter weh, auf diese Weise von der Schwelle des Hauses gejagt worden zu sein, in dem ihre Mutter aufgewachsen und sie früher von allen verhätschelt worden war. Unterwegs kam sie an dem Kolonialwarenladen vorbei, wie das kleine Geschäft sich stolz nannte, und überlegte, ob sie die Krämerin nicht doch bitten sollte, ihr wenigstens die notwendigsten Lebensmittel auf Kredit zu überlassen. Aber die Frau würde das Geld niemals bekommen, denn ihr Großvater besaß keinen blanken Taler mehr, und Ottokar würde sich weigern, die Schulden seines Onkels zu begleichen.
    Daher schlich sie mit hängendem Kopf an dem Häuschen vorbei, das sich bis auf seine Aufschrift kaum von den anderen Gebäuden im Dorf unterschied. Gerade als sie den Waldrand erreicht hatte, erwies es sich, dass nicht alle Menschen so herzlos waren wie der neue Herr auf Trettin und dessen Frau.
    Die alte Miene trat hinter einem Gebüsch hervor, als habe sie auf Lore gewartet, und reichte dem Mädchen ein großes Paket. »Für dich und den alten Herrn. Möge Gott mit euch sein!«
    Lore nahm es verblüfft entgegen, doch ehe sie etwas sagen konnte, huschte die frühere Magd davon, als hätte sie Angst. Lore sah ihr nach und fühlte sich hin- und hergerissen. Am liebsten wäre sie Miene hinterhergelaufen, um ihr das Geschenk zurückzugeben, denn die Frau zählte zu den Ärmsten im Dorf und wusste oft selbst nicht, wovon sie am nächsten Tag leben sollte. Der Duft, der ihr aus dem Paket entgegenstieg, war jedoch zu verführerisch. Daher fasste sie es so, wie sie es am besten tragen konnte, dankte im Stillen Miene und all den anderen Menschen, die den Inhalt gespendet haben mussten, und eilte nach Hause. Unterwegs fragte sie sich, wie sie ihrem Großvater beibringen sollte, dass er nun auf Kosten seiner einstigen Tagelöhner lebte.

XI.
     
    Lores Befürchtungen, der alte Herr werde sich wegen der Lebensmittel aufregen,

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