Dezembersturm
Madame de Lepin aufzusuchen. Sie hatte sich schon den Kopf zerbrochen, mit welchen Ausreden sie ihrem Großvater ihre regelmäßigen Fahrten nach Heiligenbeil erklären sollte. Wenn er erfuhr, dass seine Enkelin gegen Entgelt für eine Schneiderin arbeiten wollte, würde er toben vor Zorn.
Obwohl man Lore das schlechte Gewissen von der Stirn ablesen konnte, wurde er nicht argwöhnisch. »Genau das wirst du tun, und zwar donnerstags. An dem Tag kommt Doktor Mütze zu mir und kann dich von dort mitnehmen. Du musst nur auf dem Hinweg schauen, ob dich jemand mitfahren lässt. Übrigens: Wie steht es um deine Englischkenntnisse?«
Diese Frage überraschte Lore beinahe noch mehr als der verlangte Religionswechsel. »Nun, ich … Vater hat mir ein wenig Unterricht erteilt, aber seit seinem Tod …« Sie brach ab und sah sich mit einem Tadel des alten Herrn konfrontiert.
»Du solltest dich bemühen, in ganzen Sätzen zu sprechen! Sonst nehmen die Leute an, du kämest aus einer Tagelöhnerkate. Außerdem wirst du deine Englischstudien wieder aufnehmen. Sie beherrschen die Sprache nicht zufällig, Herr Pfarrer?«
Starzig schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nein. Ich könnte nur mit Latein dienen.«
»Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern«, fand der Alte und forderte Lore auf, den Priester in die Küche zu führen und ihm etwas zu essen vorzusetzen. Dann krauste er nachdenklich die Stirn. »Heute ist doch auch Donnerstag. Mütze müsste bald kommen.Wenn er wieder fährt, kann er den Pfarrer mit nach Heiligenbeil nehmen.«
Hochwürden Starzig atmete auf, denn zu Fuß würde er die Stadt erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen.
»Das wäre sehr fürsorglich von Ihnen, Herr von Trettin. Damit bliebe mir genügend Zeit, eines meiner Schäfchen in dieser Gegend zu besuchen und ihm Trost zu spenden.«
»Tun Sie das! Der gute Mütze wird Sie dann bei der Einmündung des Weges in die Landstraße aufnehmen.« Wolfhard von Trettin scheuchte den Priester und Lore aus seinem Zimmer und wartete dann wie auf glühenden Kohlen sitzend auf seinen alten Freund.
Auch an diesem Tag konnte er beinahe die Uhr nach ihm stellen, so pünktlich hielt Doktor Mützes Landauer vor dem Jagdhaus. Während Lore sich dem Problem ausgeliefert sah, neben dem Priester auch noch dem Kutscher des Arztes einen Imbiss auftischen zu müssen, trat Doktor Mütze in das Zimmer des alten Herrn. Sofort fielen ihm das rötliche Gesicht des Kranken und der erschöpfte Ausdruck in dessen Augen auf. Er ließ sich seine Besorgnis jedoch nicht anmerken, sondern grüßte Wolfhard von Trettin freundlich und begann, ihn zu untersuchen.
Der alte Herr ließ es schweigend über sich ergehen und fasste dann nach dessen Hand. »Jetzt sag mir freiheraus, wie es um mich steht, alter Knochenflicker.«
Doktor Mütze senkte bedrückt den Kopf. »Ich würde dir gerne eine bessere Auskunft geben, Nikas, aber es sieht nicht gut aus. Ich fürchte, du wirst den nächsten Frühling nicht mehr erleben.«
»Das dachte ich mir schon! Ich spüre selbst, wie ich von Tag zu Tag nachlasse. Es kostet mich immer mehr Kraft, es vor Lore zu verbergen. Bei Gott, dabei hätte ich so gerne gelebt, bis sie erwachsen ist und Ottokar und dessen Frau eine lange Nase drehen kann.«
In der Miene des alten Herrn stand sein ganzes Elend zu lesen, und für einen Augenblick befürchtete der Arzt schon, seine schonungsloseDiagnose könnte den Lebensfunken seines alten Freundes noch an diesem Tag ausblasen.
Doch so schnell gab Wolfhard von Trettin sich nicht geschlagen. Er lachte, auch wenn es ein wenig zittrig klang, und zwinkerte dem Arzt zu. »Es bleibt dabei. Du hilfst mir, so gut du kannst.«
»Ich tue alles für dich, was in meiner Macht steht, mein Freund. Aber ich werde Lore nicht vor dem Gesindel im Herrenhaus bewahren können.«
Trettin lachte erneut, und diesmal hörte es sich kräftiger an. »Gesindel! Das ist die richtige Bezeichnung für Ottokar, seine Frau und seine ungezogenen Rangen. Aber wir beide werden ihnen eine sehr lange Nase drehen, mein Freund.«
Doktor Mütze sah ihm an, dass er etwas ausbrütete, doch als er nachfragte, konnte er dem alten Herrn kein einziges Wort entlocken. Stattdessen stellte Wolfhard von Trettin eine überraschende Frage. »Hast du noch immer Interesse, mein Jagdhaus und das Stück Wald zu kaufen, das mir gehört?«
Der Arzt nickte nachdrücklich. »Das sagte ich doch schon letztens. Mich interessiert das Jagdrecht, das auf dem Haus liegt und
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