Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
protestantischen Pastor handele.
    »Bei Gott, einen Patienten frage ich ja auch nicht nach seiner Religion.« Der Arzt lachte zunächst, wurde dann aber wieder ernst. »Will dein Großvater etwa seinen Glauben wechseln?«
    Lore nickte unglücklich. »Genau das will er, Herr Doktor. Und ich soll es auch tun. Er verlangt sogar, dass ich jede Woche in die Stadt gehe, um zu lernen, katholisch zu werden. Das soll ich donnerstags tun, damit ich mit Ihnen nach Hause fahren kann. Aber nur, wenn es Ihnen recht ist, Herr Doktor.«
    Der Arzt versetzte ihr einen leichten Nasenstüber. »Natürlich ist es mir recht, Mädchen. Bräuchte ich meinen Wagen nicht, um zu meinen Patienten zu fahren, würde ich ihn dir schicken, damit du zu deinem Religionsunterricht in die Stadt kommst, ohne fremde Leute um eine Mitfahrgelegenheit bitten zu müssen. Das ist nicht ganz ungefährlich, denn man weiß nie, an wen man dabei gerät. Versprich mir, dass du vorsichtig bist.«
    Obwohl er nicht näher darauf einging, wusste Lore, was er meinte. Schon manche Magd, die um eine Mitfahrgelegenheit gebeten hatte, war vom Fahrer oder Besitzer des Wagens in die Büsche gezerrt und vergewaltigt worden. Was das genau hieß, hatte Elsie ihr in sehr unzarten Worten erklärt und ihr auch die Schmerzen ausgemalt, die ein Mädchen wie sie dabei empfinden würde. Lore ließ sich von dieser Sorge nicht abschrecken, sondern beschloss, nur mit Menschen mitzufahren, die sie kannte. Außerdem war sie für ihr Alter recht groß und kräftig. Also würde man sie gewiss nicht so leicht in den Wald schleppen können.
    Mit einem Zug um den Mund, der Doktor Mütze an einen störrischen Esel erinnerte, verabschiedete sie sich von dem Arzt und sah dann noch einmal nach ihrem Großvater. Da dieser im Moment nichts benötigte, kehrte sie zu ihrer Näharbeit zurück und überlegte sich, was sie von dem ersten Geld, das sie damit verdiente, einkaufen sollte.

ZWEITER TEIL
Die Flucht

I.
     
    Die Tage kamen und gingen, reihten sich zu Wochen und zu Monaten. Fast unmerklich schwand der Sommer aus Ostpreußen und machte dem Herbst mit seinen unzähligen Farben Platz, bis schließlich der erste kalte Wind vom Osten her den nahenden Winter ankündete. Auf den Feldern des Gutes Trettin hatte das Gesinde zusammen mit den Tagelöhnern längst das Getreide und das Heu eingebracht und ihrem Herrn damit einen guten Verdienst verschafft.
    Dennoch starrte Ottokar von Trettin immer wieder zu dem Forst hinüber, der keinen Kilometer entfernt begann und sich dunkel und geheimnisvoll nach Osten hinzog. Ein Teil des Waldes zählte zum Gut, ein anderer zu den Liegenschaften seiner Nachbarn. Dies verdross ihn nicht, aber das Stück Forst, das seinem Onkel gehörte und auf eine weite Strecke an sein Land grenzte, empfand er als Dorn in seinem Fleisch.
    Im Jagdhaus hatte sich die Situation nicht geändert. Wolfhard von Trettin lag seinen eigenen Worten zufolge wie ein mürbes Stück Holz im Bett und kämpfte gegen die Schatten des Todes an. Lore gegenüber versuchte er seinen Zustand zu verbergen und gab sich kräftiger, als ihm zumute war. Dabei erteilte er ihr Befehle, die sie oft für unsinnig hielt, aber dennoch getreulich erfüllte, um ihn um Gottes willen nicht aufzuregen. Für sie war es eine harte Zeit, denn sie musste nicht nur zu jeder Tages- und Nachtstunde für den Kranken bereitstehen, sondern auch für Madame de Lepin nähen und jene religiösen Texte lesen, die Hochwürden Starzig ihr donnerstags aufgab.
    Da ihr Großvater jedes Mal verlangte, dass sie ihm die Geschichten der Heiligen und der Wunder der katholischen Kirche vortrug,blieb ihr nichts anderes übrig, als bis tief in die Nacht hinein im Schein einer Petroleumlampe zu lernen.
    Der alte Herr schickte sie jeden Donnerstag in die Stadt, ohne zu ahnen, welchen Gefallen er ihr damit tat. Auf diese Weise konnte Lore Woche für Woche Kleidungsstücke von Madame de Lepin mitnehmen und ihr die fertiggenähten zurückbringen. Sie erhielt nur wenig Lohn, aber das Geld reichte für die notwendigsten Lebensmittel. Daher konnte sie für die Taler, die Doktor Mütze ihr bei seinen Besuchen zusteckte, Leckerbissen für ihren Großvater kaufen. Auch wenn Ottokar ihn zum Bettler gemacht hatte, so wollte sie nicht, dass er sich zu viel versagen musste.
    Sie konnte auch Elsie wieder bezahlen. Fleißiger oder gar zuverlässiger wurde das Dienstmädchen trotzdem nicht, aber die geringe Hilfe entlastete Lore, die die Arbeit im Haus nicht allein

Weitere Kostenlose Bücher