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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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innigen Gebeten.
    Ehe Lore die Gelegenheit fand, mit einer der Ordensschwesternunter vier Augen zu sprechen, erschien Nathalia auf der Bild fläche, munter wie ein Vögelchen und bestrebt, ihre neue Freundin aus der für sie bedrohlichen Nähe der Franziskanerinnen zu schaffen. Die Kleine führte sie an Deck, auf dem man den Passagieren erster Kajüte mit dem Deckhaus einen bequemen Aussichtspavillon zur Verfügung gestellt hatte. Hier konnte man windgeschützt den Anblick des Meeres genießen, ohne vom Ruß aus den Schornsteinen beschmutzt zu werden.
    Dort ließ das Mädchen seiner Eifersucht auf die Nonnen freien Lauf. »Ich will nicht, dass du mit denen redest! Sie machen eine schwarze Krähe aus dir, und dann betest du den ganzen Tag und hast keine Zeit mehr, mit mir zu spielen. Du gehörst jetzt zu mir und nicht zu ihnen. Großvater hat gesagt, er kümmert sich um dich, und das heißt, dass du bei mir bleiben darfst! Du wirst uns auf unseren Reisen begleiten und zu Hause mit mir in einer großen Kutsche ausfahren. Du liest mir vor und gehst mit mir schöne Kleider für mich kaufen. Du bekommst natürlich auch ein schönes Kleid! Wir sind jetzt für immer Freundinnen, hörst du? Ich will nicht mehr allein sein, und deshalb bleibst du bei mir!«
    Das klang sehr energisch, aus dem Mund dieses puppenhaften Wesens aber auch so drollig, dass Lore zu lachen begann. Trotz ihrer Belustigung wollte sie Nathalia fragen, ob sie selbst bei diesen Plänen nicht auch noch ein Wörtchen mitzureden hätte. Aber die Kleine stampfte mit dem Fuß auf und verlangte ein sofortiges Ja von ihr. Lore hasste Streit und ging Auseinandersetzungen möglichst aus dem Weg, deswegen zog sie Nathalia an sich und strich ihr über das Haar.
    »Meine liebe, kleine Freundin, ich verspreche dir, dir bis zu unserer Ankunft in New York Gesellschaft zu leisten und mich um dich zu kümmern, so wie ich mich früher um meine kleine Schwester gekümmert habe. In Amerika werden dein Großvater und du entscheiden, ob ich bei dir bleiben darf. Wer weiß, vielleicht magstdu mich bis dahin auch gar nicht mehr und bist froh, mich loszuwerden. Eine große Freundin zu haben kann auch sehr lästig sein, nämlich dann, wenn ich dir sagen muss, was du tun darfst und was nicht.« Für sich hoffte Lore, dass sie bei Nati bleiben durfte, denn ohne einen einzigen Taler oder Dollar in der Tasche glaubte sie nicht, in Amerika Fuß fassen zu können.
    »Du sollst aber meine Freundin und Gesellschafterin sein. Gouvernanten hatte ich genug, mindestens drei im Jahr, wie Großvater sagt, und Lehrerinnen kriege ich auch immer neue. Aber die meisten davon sind furchtbar dumm! Ich will jemanden haben, der mit mir lacht und spielt und nicht immer schimpft und lamentiert, hörst du? Du musst immer lustig sein und …«
    Nathalia sprach ohne Punkt und Komma. Es war, als wolle sie sich den ganzen aufgestauten Unmut ihres bisherigen Daseins von der Seele reden. Dabei gab sie Lore einen tiefen Einblick in den Charakter und das Leben eines armen, reichen Waisenkinds, das einen Ersatz für die schmerzlich vermisste Mutter suchte und dabei schon einige Male schwer enttäuscht worden war. So charmant Nathalia zu fremden Personen und Dienstboten sein konnte, so schnell verwandelte sie sich von einem Engel in einen kleinen Teufel, wenn sie ihre Bedürfnisse oder sich als Person missachtet sah. Zu Lores Erleichterung hörte sie jedoch zu, wenn man ihr etwas geduldig erklärte, und sie konnte auch einsichtig sein.
    Lore verbrachte den ganzen Nachmittag mit ihr, und als der Gong zum Abendessen rief, stellte sie fest, dass sie ihre eigenen Sorgen und Nöte für einige Stunden vergessen hatte. Sie verabschiedete sich von Nathalia und ihrem Großvater, der ihnen eine Weile schweigend Gesellschaft geleistet hatte, und ging dann in den Salon zweiter Kajüte hinab. Auf dem Weg dorthin hatte sie auf einmal das Gefühl, von Blicken verfolgt zu werden. Sie blieb zuerst stocksteif stehen, bückte sich dann aber und band die Schleifen ihrer Schuhbänder neu. Dabei sah sie sich vorsichtig um.
    In einer düsteren Ecke entdeckte sie Nathalias Vetter Ruppert. Seine schwarzen, eng zusammenstehenden Augen schienen sich regelrecht an ihr festzusaugen. Lore bekam es mit der Angst zu tun und ging rasch weiter. Zum Glück würde sie selbst dann, wenn sie sich entschloss, bei Nathalia zu bleiben, nichts mit Ruppert von Retzmann zu tun haben, denn dieser durfte deren Worten zufolge das Haus des alten Grafen nicht

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