Dezembersturm
hat mir erlaubt, mich zu diesem Zweck hier aufzuhalten. Doch wenn Sie es wünschen, werde ich mich zurückziehen.«
»Wollen Sie desertieren, Mädchen? Das kommt nicht in Frage! Wenn es Ihre Angehörigen gestatten, können Sie bei meiner missratenen Enkelin bleiben, solange Sie wollen.«
»Lore hat keine Angehörigen mehr, und ihre Zofe hat sie auch im Stich gelassen!«, warf Nathalia ein. »Sie braucht eine neue Familie, und das bin jetzt ich.«
»Stimmt das?«, fragte Graf Retzmann und setzte sich auf die Couch, während Lore immer noch stramm wie ein Soldat vor ihm stand. Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß, aber sein Blick war schon viel freundlicher. Er erinnerte Lore jetzt sogar ein wenig an ihren Großvater, den sie wohl niemals wiedersehen würde. Bei diesem Gedanken schossen ihr die Tränen in die Augen.
Graf Retzmann reichte ihr ein Taschentuch. »Aber Mädchen, ich bin doch kein Menschenfresser. Komm, wischen Sie sich das Gesicht ab und setzen Sie sich neben mich. Sie sind die Enkelin eines Freiherrn von Trettin? Ich habe einen Wolfhard von Trettin gekannt,der aus Ostpreußen kam. Wir haben zusammen studiert. Könnte das ein Verwandter von Ihnen gewesen sein?«
Lore schniefte. »Mein Großvater heißt Wolfhard. Aber ich glaube, seine Freunde sagten früher Nikas zu ihm, weil einer seiner Vornamen Nikolaus ist. Er hat mich auf die Reise geschickt und auch die Passage bezahlt. Ich habe nämlich außer ihm keine Angehörigen mehr, die sich um mich kümmern könnten.«
Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, war aber nach Lores Meinung gewiss im Sinne ihres Großvaters. Zwar fürchtete sie sich fast zu Tode, wenn sie an das unbekannte Land dachte, aber um keinen Preis der Welt wollte sie zu den Leuten zurückgeschickt werden, die den stolzen, alten Herrn von Trettin ins Elend gejagt hatten.
Graf Retzmanns Augen leuchteten bei ihren Worten erfreut auf. »Sie sind die Enkelin des wilden Nikas? Nun, das ist aber eine Überraschung! Er war mein Freund und ein Mann, auf den sich ein Kamerad wirklich verlassen konnte. War das seine Idee, Sie mutterseelenallein auf die Reise zu schicken? Nun ja, er war immer schon ein Hitzkopf, der zuerst handelte und danach erst nachdachte. Ich hoffe, es erwartet Sie jemand in den Staaten!«
Lore schüttelte den Kopf. »Ich sollte mit den Franziskanernonnen reisen und drüben eine Weile bei ihnen wohnen …« Auf seine Aufforderung hin berichtete sie dem Grafen kurz und knapp, was sie erlebt hatte. Erstaunlicherweise fühlte sie sich jetzt viel ruhiger als am Morgen, und es schien ihr, als könne doch noch alles gut werden.
Der alte Graf hörte ihr aufmerksam zu und stellte auch die eine oder andere Frage. Als sie endete, spendete er ihr keinen Trost, sondern trug ihr auf, sich bis zum Ende der Reise um Nathalia zu kümmern. In New York würde er ihr weiterhelfen, ganz gleich, was sie dort zu tun gedächte. Danach verabschiedete er sich abrupt und ging zur Freitreppe, die zum Deckhaus führte.
Lore sah ihm noch nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwand. Dann hatte sie eine Weile zu tun, um die wegen des »langweiligen Erwachsenengesprächs« schmollende Nathalia wieder aufzuheitern. Viel zu früh rief der Gong sie in den Speisesaal ihrer Klasse. Da Nathalia auf Anordnung ihres Großvaters nach dem Essen Mittagsschlaf zu halten hatte, beschloss Lore, ihr Herz über die Hürde zu werfen und die fünf Franziskanerinnen anzusprechen, falls diese sich nicht auch zum Schlafen zurückziehen würden.
III.
Zu Lores leichtem Bedauern blieben die Nonnen nach dem Mittagessen am Tisch sitzen und befanden sich sofort im Zentrum eines ebenso frömmelnden wie schwatzhaften Damenkränzchens.
Auch Lore gesellte sich zu ihnen, jedoch nur als stumme Zuhörerin. Sie brachte es nicht fertig, die Dinge, die ihr am Herzen lagen, vor so vielen unbeteiligten Leuten anzusprechen. Außerdem schienen ihr die Nonnen, so nett und liebenswürdig sie auch waren, selbst noch sehr jung und hilfsbedürftig zu sein. Daher wollte sie sich ihnen nicht vorbehaltlos anvertrauen. Wie aus den Gesprächen hervorging, hatten die frommen Frauen ihre Heimat nicht freiwillig verlassen. Die neuen Gesetze des Reichskanzlers Fürst Bismarck verboten ihnen, in Deutschland als Lehrerinnen und Krankenschwestern zu arbeiten, und daher fuhren sie in die Neue Welt, um dort ihre Berufe in deutschen Gemeinden auszuüben. Auch sie hatten Angst vor dem unbekannten Land und sprachen sehr viel von Gottvertrauen und
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