Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
verabschiedet hatte, zog auch Lore sich in ihre Kabine zurück.

IV.
     
    Während sie sich zum Schlafengehen zurechtmachte, kreisten Lores Gedanken rastlos hinter ihrer Stirn, ohne ein Ziel zu finden, und als sie sich ins Bett legte und die Decke bis über den Kopf zog, beschäftigte sie sich kaum mit dem immer stärker werdenden Schlingern des Schiffes, sondern mit ihrer Situation. Da sie im Dröhnen und Vibrieren des Rumpfes nicht einschlafen konnte, stand sie auf, zündete die Gaslampe an, wie der Steward esihr gezeigt hatte, und breitete ihren geringen Besitz und das wenige Bargeld, das ihr noch geblieben war, auf dem anderen Bett aus. Das Geld, das ihr Großvater für die Reise vorgesehen hatte, hatte Elsie behalten, und mit den paar Münzen, die sie noch besaß, konnte sie wahrscheinlich nicht einmal ein Zimmer für eine Nacht mieten. Durch die Niedertracht ihrer Begleiterin war sie zu einer heimatlosen Bettlerin geworden.
    Also musste sie entweder auf Nathalias Angebot eingehen, falls deren Großvater gewillt war, sie in seinen Haushalt aufzunehmen, oder sich für immer den Nonnen anschließen, die eine Kindergärtnerin oder eine Krankenschwester aus ihr machen würden. So oder so würde sie eine Art Dienstbotin werden, ein Schicksal, vor dem ihr Großvater sie hatte bewahren wollen.
    Als sie den Segeltuchmantel, das letzte Geschenk ihres Großvaters, vor sich ausbreitete, fiel ihr auf, wie schwer das Ding war, und als sie versuchte, den Stoff glatt zu ziehen, stellte sie fest, dass er mehrere Beulen hatte, so als würden kleine Säckchen in den Taschen und im Innenfutter des Mantels stecken. Nun untersuchte sie den Mantel gründlich und förderte etliche Bündel zutage, die sorgfältig in geteertes Segeltuch eingeschlagen, zugebunden und an eingenähten Schlaufen befestigt waren.
    Als sie die prall gefüllten Säckchen öffnete, fand sie allerlei nützliche, gut in Ölpapier eingewickelte Dinge darin wie ein Päckchen mit Hartbrot, Dauergebäck und eine steinharte Wurst. Außerdem förderte sie ein praktisches Reisenecessaire und ein Buch mit guten Ratschlägen für Auswanderer in die Neue Welt zutage. Dann folgte eine kleine Metallflasche, die einen scharfen Kräuterschnaps enthielt, wie er zu Hause bei Erkältungskrankheiten angewendet wurde, und ganz zuletzt fischte Lore aus einer versteckt angebrachten Innentasche ein dreifach verschnürtes Päckchen heraus, das gleich von mehreren Schichten wasserdichter Hüllen umgeben war.
    Als sie diese entfernte, hielt sie eine ungewöhnlich große, gut verschlossene Tabaksdose in der Hand.
    Als Lore diese öffnete und den Inhalt vor sich ausbreitete, wurde ihr fast schwindelig. Ganz zuoberst lag ein dickes Bündel grüner Scheine, auf denen »Dollar« stand. Obwohl sie nicht wusste, welchen Kurs die amerikanische Währung zu ihren gewohnten Talern auswies, begriff sie, dass sie ein Vermögen in der Hand hielt. Wahrscheinlich war es der größte Teil des Erlöses, den ihr Großvater für das Jagdhaus und seinen Wald erzielt hatte. Diesen Schatz hatte er ihr zukommen lassen, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass er selbst kein Geld mehr für Lebensmittel hatte, geschweige denn für Heizmaterial oder sonstige wichtige Dinge. Lore fühlte sich von diesem Geschenk wie erschlagen und wünschte sich, sie hätte sich noch bei dem alten Herrn dafür bedanken können. Dieses Geld nahm ihr einen großen Teil ihrer Sorgen, bescherte ihr aber auch einen Haufen neue.
    Lore fragte sich, ob ihr Großvater schon von Anfang an mit Elsies Unehrlichkeit gerechnet hatte. Zuzutrauen war es ihm. Nachdenklich packte sie alles wieder genauso ein, wie sie es vorgefunden hatte, und nahm sich vor, den Mantel als Andenken an ihren Großvater stets in Ehren zu halten. Dann wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie ihn wegen seines wertvollen Inhalts tatsächlich nicht mehr aus den Augen lassen durfte. Das bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als dass sie dieses Monstrum bei jeder nur möglichen Gelegenheit tragen musste. Sie fragte sich, was Nathalia und vor allem Graf Retzmann dazu sagen würde, wenn sie in dem Ding herumlief.
    Mit einem letzten, tiefen Seufzer kroch sie wieder in ihre Koje und betete ein ausführliches Nachtgebet, in dem sie Jesus Christus und die Heilige Jungfrau um das Wohlergehen des alten Herrn bat. Dabei ahnte sie, dass er wahrscheinlich nicht mehr unter den Lebenden weilte. Schließlich hatte er ihr klarzumachen versucht,dass er in der Nacht nach ihrer Abreise zu

Weitere Kostenlose Bücher