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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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sterben wünsche, und wie sie ihn kannte, hatte er genau das getan. Daher sprach Lore noch das Gebet, das sie an seinem Grab hätte beten sollen. Auch wenn es ungehörig war, so dankte sie zum Schluss der Muttergottes, dass sie das Sterben ihres Großvaters nicht miterlebt hatte. Sie hatte an den offenen Särgen ihrer Eltern und Geschwister stehen müssen, und der Anblick reichte ihr für den Rest ihres Lebens. Um nicht wieder von jenen schrecklichen Erinnerungen bis in ihre Träume verfolgt zu werden, betete sie noch ein Ave-Maria und bat darin die Himmelsjungfrau um einen ruhigen, ungestörten Schlaf.
    Das Gebet schien ungehört zu verhallen, denn an Einschlafen war nicht zu denken. Das Stampfen der beiden Schiffsmaschinen klang, als befände sie sich direkt im Maschinenraum, und das Schiff vibrierte so stark, dass der Becher, den sie neben sich auf die kleine Kommode gestellt hatte, über die erhöhte Kante kippte und zu Boden fiel. Gleichzeitig schlugen die Wellen wie mit riesigen Holzhämmern auf das Schiff ein, und der Rumpf ächzte und kreischte, als quetsche eine riesige Hand ihn zusammen. Lore spürte, wie ihr Herz vor Angst zu rasen begann, und sie flehte die Himmelsmächte an, ihr in diesen Stunden beizustehen.

V.
     
    Irgendwann war Lore wohl doch eingeschlafen, denn sie wurde durch einen heftigen Schlag geweckt, dem ein zweiter, noch stärkerer folgte. Dabei flog sie wie von einer unsichtbaren Faust gepackt gegen die Wand der kleinen Koje. Es war, als hätte der Riese, der bereits seit Stunden auf den metallenen Rumpf einschlug,einen noch gewaltigeren Hammer benutzt. Zwei-, dreimal schüttelte sich das Schiff, dann lag es still. Das Heulen des Sturms nahm jedoch noch zu, und die Wände schwangen wie eine Glocke. Das Stampfen der Maschinen ging in ein schnelles Vibrieren über und erlosch dann ganz.
    Auf einmal war Lore hellwach. Etwas Schlimmes musste passiert sein. Entweder war das Schiff gegen etwas gestoßen, oder es war aufgelaufen und gestrandet.
    Im Bruchteil einer Sekunde schoss Lore alles durch den Kopf, was sie in den letzten Tagen über Schiffskatastrophen gehört hatte. Lange Augenblicke schien es ihr, als sei sie das einzige Lebewesen, das an Bord dieser lärmerfüllten Hölle zurückgeblieben war, eingeschlossen in einem riesigen Sarg und zum Sterben in der Tiefe des Meeres verurteilt. Dann aber hörte sie Menschen um sich herum vor Angst schreien, nach anderen rufen oder panisch fragen, was geschehen sei. Einige fluchten unanständig, und in der Kabine nebenan erlitt eine Dame einen hysterischen Anfall.
    Lore fühlte ihr Herz bis unter die Schädeldecke klopfen und saß noch einige Atemzüge lang wie erstarrt. Dann sprang sie auf, riss sich das lange Nachthemd über den Kopf und zog in fliegender Hast drei Schichten Unterwäsche an. Darüber kam alles, was sie noch an Kleidung besaß. Dabei lauschte sie angestrengt, um jedes Wort von draußen zu hören.
    Gerade als sie dabei war, ihre Schafwolljacke überzustreifen, die anscheinend beim letzten Waschen eingelaufen war, kam Nathalia herein und warf sich heulend und kreischend in ihre Arme.
    »Lore, das Schiff geht unter! Jetzt müssen wir auch ertrinken wie meine armen Eltern! Ich habe Angst! Ich will noch nicht sterben!«
    Lore nahm das Kind in die Arme und versuchte, es zu trösten.
    »Nati, du brauchst keine zu Angst haben. Noch geht das Schiff nicht unter. Hörst du, was die Matrosen rufen? Alle Passagieresollen an Deck kommen! Es sind doch Rettungsboote da – und die vielen Patentflöße, zwischen denen wir gestern Verstecken gespielt haben. Komm, gib mir deine Hand. Wir laufen jetzt ganz schnell nach oben. Nein, warte! Du bist ja nur halb angezogen. Wir müssen erst wärmere Sachen für dich holen.«
    Nathalia stampfte mit dem Fuß auf. »Nein, ich gehe nicht zurück in die Kabine! Du musst mich zum Rettungsboot bringen! Ich will nicht sterben, hörst du?«
    »So kannst du nicht in die Kälte hinaus. Da erfrierst du schneller, als du ertrinkst! Komm, raus aus dem Mantel. Du ziehst darunter erst meine alte Wolljacke an. Dazu nehme ich noch meine kleine Reisedecke mit. In die wickele ich dich aber erst ein, wenn wir im Boot sitzen. Du wirst sehen, es wird alles gutgehen!«
    Lore redete auf Nati ein, während sie erst ihren alten braunen Mantel und darüber den kostbaren Segeltuchmantel anzog, dessen Gürtel sie dreimal um sich schlingen musste. Doch das Kind ließ sich nicht überzeugen, dass es keine unmittelbare Gefahr fürchten

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