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Dezembersturm

Titel: Dezembersturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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betreten. Wie Nati ihr erklärt hatte, war es reiner Zufall, dass Ruppert sich auf dem selben Schiff befand wie sie selbst und ihr Großvater, doch Lore traute dem Braten nicht so recht. Daher war sie froh, als er sich mit einer ärgerlichen Handbewegung abwandte und wieder nach oben stieg.
    Da sie sich gerade zu Ruppert umdrehte, wäre sie beinahe mit der hochgewachsenen Nonne zusammengestoßen, in der sie die Anführerin der Gruppe vermutete.
    »Entschuldigen Sie vielmals«, flüsterte Lore und versuchte sich an Schwester Henrica vorbeizudrücken. Doch diese streckte die Hand aus und hielt sie am Ärmel fest.
    »Bist du nicht das Mädchen aus Ostpreußen, das sich uns in Bremen hätte anschließen sollen?«
    Lore wäre vor Verlegenheit am liebsten im Boden versunken, nickte aber unglücklich. »Das stimmt. Ich bin Lore Huppach. Unser Dienstmädchen, das mit mir nach Amerika reisen sollte, hatte jedoch Angst, wir könnten Sie in Bremen verpassen, und drängte daher darauf, nach Bremerhaven weiterzufahren und an Bord zu gehen. Aber Elsie ist nicht auf das Schiff mitgekommen, angeblich, weil sie ihre Handtasche verlegt hatte und diese suchen wollte. Und dann ist sie mit Gustav weggefahren und hat mich allein zurückgelassen!«
    »Der Steward hat uns bereits von deinem Missgeschick mit der untreuen Zofe berichtet. Mir tut es sehr leid um dich. Aber ich finde, wir sollten uns jetzt zusammensetzen und überlegen, was mit dir geschehen soll.«
    »Sehr gerne! Seien Sie mir bitte nicht böse, weil ich mich bis jetzt nicht bei Ihnen gemeldet habe. Aber ich war durch Elsies Verrat wie vor den Kopf geschlagen.« Lore hatte sich wieder gefasst und war erleichtert, als die Schwester ihre Entschuldigung lächelnd zur Kenntnis nahm.
    »Wir haben gesehen, dass du dich um das kleine Waisenmädchen aus der ersten Klasse gekümmert hast. Das ist ein gottgefälliges Werk, Lore, und vielleicht sogar deine Bestimmung. In den Staaten gibt es nämlich viele Waisenkinder, und du wirst dir dort einen wunderbaren Wirkungskreis schaffen können. Ich glaube, du wirst eine Bereicherung für unsere Kongregation werden!«
    »Was ist eine Kongregation?«, fragte Lore verblüfft.
    »Das ist ein Ordenshaus, in dem wir Schwestern zusammenleben und von dem aus wir unseren gottgefälligen Dienst an unseren Nächsten verrichten. Es ist meistens einer Schule, einem Kindergarten oder einem Krankenhaus angeschlossen. Aber komm jetzt, liebe Lore! Heute Abend werden wir noch viel miteinander reden und einander kennenlernen. Es wird alles gut werden! Du brauchst dir wirklich keine Sorgen mehr zu machen.«
    Lore nickte stumm und versuchte, der liebenswürdigen Schwester ein Lächeln zu schenken, doch sie spürte, dass es ihr kläglich misslang. Als sie dann bei den Nonnen am Tisch saß und ein freundlicher Steward ihr eine Tasse Kaffee und Plätzchen vorlegte, spürte sie, wie ihr Magen sich verkrampfte und der wenige Appetit, der ihr nach dem Abendessen noch geblieben war, rasch verflog. Sie wunderte sich darüber, denn sie hatte längst gelernt, das Leben so zu nehmen, wie es kam, und es gab zumindest im Augenblick keinen Grund für sie, mit dem Schicksal zu hadern.
    Allerdings heulte draußen ein abscheulicher Wintersturm, und das Schiff stampfte, rollte und schlingerte so stark, dass sie sich sogar im Sitzen mit einer Hand am Tisch festhalten musste, um nicht vom Stuhl zu rutschen. Wahrscheinlich hatten sich deswegenauch nur wenige Passagiere zum Abendessen eingefunden. Ihr selbst war jedoch nicht übel, und sie hatte auch keine Kopfschmerzen wie einige der Damen am Tisch. Auch den Nonnen schien das Schaukeln auf Magen und Gemüt zu schlagen.
    Schwester Henrica sah Lore kläglich an. »Liebe Lore, ich möchte dich bitten, uns heute Abend zu entschuldigen. Wir wollen uns eine Weile ins Gebet versenken und Gott bitten, diesen Sturm zu besänftigen. Meine Mitschwestern und ich waren noch nie auf See und müssen uns erst daran gewöhnen. Wir sprechen morgen miteinander. Heute schließen wir dich in unsere Gebete ein und bitten Gott, dass er dir den richtigen Weg zeigen und deinen Eintritt in die Neue Welt segnen möge. Du solltest auch zu Bett gehen, Kind, denn du siehst sehr müde aus. Bete vor dem Einschlafen ein Ave-Maria, dann wird die Gottesmutter dich beschützen und leiten. Ich wünsche dir im Namen unseres Herrn Jesus Christus einen tiefen Schlaf und ein süßes Erwachen!«
    »Danke, Schwester Henrica, und gute Nacht!« Nachdem sie sich von den Nonnen

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