Dhalgren
sagte ich, »scheint nicht . . . wahr zu sein. Ich meine, ich kann so wenig davon formen. Leben ist meist ziemlich schrecklich, mit wunderbaren Situationen und sehr schönen. Schrecklich wird es meistens dadurch, daß es von allem zuviel gibt, was durch die fünf Sinne in einen eindringt. Es strömt selbst nachts, wenn ich allein in meinem Hochbett sitze, auf mich ein. Und ich arbeite daran, genug herauszufiltern, um Momente der Ordnung zu konstruieren.« Ich verschränkte die Finger, die sich kühl anfühlten, und legte sie über meinen Bauch, der warm war. »Ich habe nicht genügend Werkzeug mitbekommen. Ich bin ein Verrückter. Ich habe nicht genügend Leben mitbekommen. Ich bin ein Verrückter in dieser verrückten Stadt. Wenn das Problem annähernd so kompliziert ist wie ein Wort, das zwei Leute aussprechen und denken, sie verstehen es . . . Wenn Sie Ihren eigenen Bauch mit Ihrer eigenen Hand berühren und versuchen, festzustellen, wer wen fühlt . . . Wenn drei Leute ihre Hand auf mein Knie legen, jeder in anderem Rhythmus atmet, der Herzschlag im Daumenballen des einen sich mit dem Puls in der Arterie außen an der Kniescheibe vermischt, und eins davon gehört zu mir - was in mir das ordnen kann, erschöpft sich vor allem anderen.«
»Sie versuchen hoffentlich nicht, mir einfach mitzuteilen - oh, wenn ich Sie nur sehen könnte! - oder es mir nicht mitzuteilen, daß die Verantwortlichkeiten eines großen, schlimmen Skorpions mit ihrer Arbeit in Konflikt geraten?«
»Nein«, sagte ich. »Im Gegenteil. Im Nest habe ich endlich genügend Leute gefunden, die mich des Nachts warm halten. Und ich kann mich so sicher wie niemand sonst in der Stadt fühlen. Jeder Skorpion, der über meine Schreibereien nachdenkt, ist einfach durch die bloßeTatsache geblendet - durch das Buch, zu dem sie es netterweise gemacht haben. Einige erröten sogar, wenn sie sich darin wiederfinden. Doch das überläßt alles zwischen der ersten und der letzten Zeile vollständig mir. Die Skorpione haben mich kampflos eingefangen. Mein Kopf ist ein Magnet, und sie sind die Aufzeichnungen, die ich in einem Feld - nein, sie sind der Magnet, ich bin die Aufzeichnungen, jetzt in einer stabilen Position.«
»Sie sind zu zufrieden beim Schreiben?«
»Sie«, gab ich zurück, »sind der Politiker; und Sie werden es einfach nicht verstehen.«
»Immerhin bekräftigen Sie meinen Entschluß, Ihr Werk nicht zu lesen. Nun, Sie sagen, Sie schreiben weiter. Trotz aller persönlichen Vorbehalte, die Sie haben mögen: Ich bin an Ihrem zweiten Buch ebenso interessiert wie an dem ersten.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich auch nur die geringste Zeit aufwenden werde, Sie Ihnen zukommen zu lassen.«
»Wenn ich ein Arrangement treffen muß, sie zu entführen, mit noch feuchter Tinte direkt unter dem dunklen Schatten Ihrer Feder hinweg, werde ich das wohl tun müssen. Sollen wir es so machen?«
»Ich habe andere Dinge zu tun.« Zum ersten Mal machte mich seine Überheblichkeit richtig wütend.
»Erzählen Sie mir darüber«, sagte er mit so natürlicher Stimme, die sich aber so natürlich aus der scherzhaften ergab, daß meine Wut besiegt war.
»Ich . . . ich möchte, daß Sie mir etwas sagen«, sagte ich.
»Wenn ich kann.«
»Ist der Vater hier in diesem Kloster«, fragte ich, »ist er ein guter Mensch?«
»Ja, ein sehr guter Mensch.«
»Aber um das glauben zu können«, fuhr ich fort, »muß ich wissen, ob ich Ihre Definition von >gut< akzeptieren kann Vielleicht stimmt sie nicht mit meiner überein ... Ich weiß nicht einmal, ob ich eine habe!«
»Ich wünschte wieder, ich dürfte Sie sehen. Ihre Stimme klingt, als seien Sie über etwas aufgeregt.« (Was ich nicht bemerkt hatte; ich fühlte mich nicht aufgeregt.) »Ich verkenne nicht Ihre Anstrengungen, unser Gespräch auf einer Ebene der Wahrheit zu halten, die ich für langweilig hielte, hätte ich nicht Respekt vor einem Mann, der gezwungen ist, aus den verständlichsten Gründen viel zu lügen. Ich bin auch nicht sehr zufrieden mit mir, Kid. Während der letzten Monate haben mich ein Dutzend voneinander unabhängige Situationen zu der einzigen Überzeugung gebracht, daß es nicht absolut notwendig ist, ein guter Mensch zu sein, um ein guter Regierungschef zu werden, doch daß es unzweifelhaft von unschätzbarem Wert ist. Bellona ist eine exzentrische Stadt die exzentrische Lebensweisen hervorbringt. Doch ich bin hier, am exzentrischsten aller Orte, weil - «
Irgend etwas wie Staub flog in meinen
Weitere Kostenlose Bücher