Dhampir: Steinerne Flut (German Edition)
il’Sänkes Bemerkungen über die Schriftrolle fielen ihr ein, und sie dachte an die Möglichkeit, dass sie es mit Pärpa’äsea und nicht mit Iyindu oder einer anderen Sprache zu tun hatte. Wie dem auch sei: Alles deutete darauf hin, dass einer der Ehrfürchtigen den Geliebten darum gebeten hatte, ihm einen eitlen Wunsch zu erfüllen.
Was konnte ein uralter Edler Tote haben, das sich jemand um der Eitelkeit willen wünschte? Und warum hatte Häs’saun den Segen »dreischneidig« genannt?
Die Metapher des »Zweischneidigen« existierte in fast jeder Kultur. Sie bezog sich auf einen Vorteil, der sich auch als Nachteil erweisen konnte. »Dreischneidig« deutete auf etwas Schlimmeres hin, das die Vorteile gleich doppelt überwiegen konnte.
… durch Schönheit … schwach war der Hohepriester und ist es noch … sein Wunsch erfüllt … betrogen mit ewigem Leben …
Es lief Wynn kalt über den Rücken.
Nicht nur einer der Ehrfürchtigen, sondern ihr Oberhaupt hatte um ewiges Leben gebeten und es erhalten, aber das ergab keinen Sinn. Wie konnte man bei einem solchen Geschenk von »betrogen« sprechen? Und die Kinder lebten nicht, sie waren Untote, Edle Tote.
Und dann »war« und »ist es noch«. Wann hatte Häs’saun diese Zeilen geschrieben? Wie konnte er wissen, was mit dem Hohepriester des Geliebten geschehen war oder geschehen würde, wenn er zusammen mit Li’kän, Volyno und der Kugel fortgegangen war?
… nie sterblich … nie ewig jung …
Eine erste vage Verbindung entstand zwischen dem »Dreischneidigen« und der Eitelkeit eines Hohepriesters. Er hatte sich nicht nur ewiges Leben gewünscht, sondern auch ewige Schönheit. Warum war sie ihm durch ewiges Leben vorenthalten geblieben?
… Geliebters eitler Erster [etwas] wusste nicht, was er verlieren würde …
Was auch immer dem Hohepriester widerfahren war, es konnte sich noch nicht während der Zeit der Belagerung ausgewirkt haben.
… ewiges Wesen. Sau’ilahk wird nie …
Wynn hielt inne.
Sie hatte den Namen des betrogenen Priesters gefunden; es war der letzte in der Gruppe der Ehrfürchtigen. Aber das genügte nicht, und der Rest der Seite ließ sich nicht entziffern. Wynn blätterte zur nächsten Seite, doch dort begann ein neuer Bericht, in dem der Hohepriester des Geliebten keine Erwähnung mehr fand.
»Ewiges Wesen, aber nie … was?«, hauchte Wynn.
Oder steckte nicht mehr dahinter? Keine ewige Jugend, keine Unsterblichkeit, aber doch ewiges Leben. Wie hatte sich der Fehler in Sau’ilahks Sehnsucht nach Schönheit ausgewirkt?
Wynn kannte die Antwort und stand auf.
»Erz-Locken«, sagte sie langsam, »ich glaube, ich weiß, wer der Wrait …«
»Jemand kommt«, unterbrach er sie.
Wynn drehte sich zur gegenüberliegenden Wand der Höhle um und wich zurück, als eine massige Gestalt aus dem Stein kam.
Es war nicht Asche-Splitter.
»Meister Bollwerk«, sagte Erz-Locken überrascht.
Wynn erkannte das knochige Gesicht und das graublonde Haar. Das Licht ihres Kaltlampen-Kristalls spiegelte sich auf den stählernen Spitzen der ledernen Panzerhemdschuppen wider.
Meister Bollwerk wirkte ebenfalls überrascht und wurde fast sofort misstrauisch. Er trat vor und warf dabei dem Wächter im Becken einen kurzen Blick zu.
»Ich konnte nicht glauben, dass Asche-Splitter dich mit der Weisen hierher4geschickt hat!« Er sah Erz-Locken an und kniff die Augen zusammen. »Was hast du gemacht?«
»Was man mir aufgetragen hat«, erwiderte Erz-Locken, und Ärger erklang in seiner Stimme. »Ich bin angewiesen zu warten, bis die Weise fertig ist, und dann Meister Asche-Splitter Bescheid zu geben, damit er sie holt.«
Wynn war bei dem Wortwechsel nicht unbedingt wohl zumute. Bollwerk traute Erz-Locken nicht. Vielleicht hielt er nicht einmal etwas davon, dass Asche-Splitter den Ausgestoßenen der Eisenborten aufgenommen hatte. Wusste Bollwerk etwas über Erz-Lockens Verbindung mit Thallûhearag? War Erz-Locken schon einmal hierher gekommen, um sich die alten Texte anzusehen?
Der ältere Steingänger richtete einen finsteren Blick auf Erz-Locken und ging an ihm vorbei zu Wynn.
»Habt Ihr etwas Nützliches gefunden?«, fragte er.
»Was?«, erwiderte Wynn verdattert. »Vielleicht … Aber ich habe gerade erst angefangen. Ich brauche mehr Zeit.«
»Der Tag ist um, eine neue Nacht hat begonnen«, sagte Bollwerk. »Ihr kehrt jetzt zu Euren Gefährten zurück, und Erz-Locken wird woanders gebraucht. Wenn Ihr etwas zu berichten habt, gebe ich der Herzogin
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