Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
warnte der andere Junge. »So solltest du nicht über unseren Domin reden.«
»Es ist mir gleichgültig«!«, sagte der erste Junge. »Ich bin froh, dass wir zurück sind, und es tut mir nicht leid, dass wir keinen Folianten mitgebracht haben. Soll sich Meister a’Seatt darum kümmern.«
Wynn wich zurück.
Seit dem Abend, an dem Miriam und Dâgmund gestorben waren, hatte kein Foliant mehr die Gilde verlassen. Aber Hochturm hatte einen zum »Aufrechten Federkiel« geschickt und dann Kuriere beauftragt, ihn zu holen. Was dachte er sich nur?
Wynn beugte sich erneut vor und spitzte die Ohren.
»Und hat Meister a’Seatt was gesagt?«, fragte Regina. Als ob dies eine Schülerin der Naturologie etwas anginge.
»Er meinte, die Arbeit sei noch nicht fertig, und deshalb könne er uns nichts mitgeben. Er schickte uns weg, und ich habe nicht dagegen protestiert. Er macht mir mehr Angst als Hochturm.«
Die drei jungen Weisen gingen nach draußen – wahrscheinlich wollten sie zum Abendessen in den Gemeinschaftsraum. Wynn wartete, bis ihre Stimmen verklungen waren, ging dann die Treppe hinunter. An der Tür verharrte sie und dachte über das Gehörte nach.
Wenn Hochturm es riskiert hatte, einen weiteren Folianten in das Skriptorium zu schicken, so konnte das nur bedeuten, dass die gegenwärtige Übersetzungsarbeit sehr wichtig war. Vielleicht standen die entsprechenden Passagen sogar mit denen in Zusammenhang, die Miriam, Dâgmund und Nikolas gestohlen worden waren. Aber es ergab keinen Sinn, dass Meister a’Seatt den Folianten nicht zurückgab. Bisher hatte sein Skriptorium alle Aufträge rechtzeitig erledigt.
Und doch … Es gab noch einen Folianten im »Aufrechten Federkiel«.
Dies mochte Wynns einzige Chance sein, sich die Texte anzusehen, auf die es ein Untoter abgesehen hatte.
Sie eilte in ihr Zimmer zurück, nahm den Kristall aus der Kaltlampe und zögerte beim Bett.
Was würde geschehen, wenn man sie entdeckte? Mehr als einmal hatte sie die Anweisung erhalten, sich von dem Übersetzungsprojekt fernzuhalten.
Magiere hätte sich von so etwas nicht aufhalten lassen, und Leesil ebenso wenig. Auch Chap hatte immer getan, was er für richtig hielt.
Wynn konnte diese Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen.
10
Kurz nach Sonnenuntergang hockte Chane auf dem Dach des Skriptoriums »Aufrechter Federkiel« und lauschte den Geräuschen, die aus dem Innern des Hauses kamen. Einer der Meisterschreiber hatte die Lehrlinge der Gilde gerade mit leeren Händen weggeschickt, was bedeutete, dass sich noch ein Foliant im Laden befand. Ein seltsamer Zufall; Chane hieß ihn willkommen.
Mit dem Begaine-Syllabar kannte er sich nicht besonders gut aus. In Bela hatten Wynn und Domin Tilswith erklärt, wie es funktionierte. Es war kein richtiges Alphabet, sondern diente dazu, Worte und Silben abzukürzen. Es basierte auf den achtunddreißig Buchstaben des modernen Numanischen und verwendete außerdem eigene Zeichen – man konnte es für die Transkription fast jeder bekannten Sprache benutzen. Im Vergleich mit anderen Systemen sparte es Platz, und jene, die es lesen konnten, waren imstande, die darin enthaltenen Informationen schneller aufzunehmen.
Mit dem gesprochenen Numanischen kam Chane einigermaßen zurecht, aber beim Lesen und Schreiben haperte es. Selbst in seinen Notizen verwendete er belaskische Buchstaben für numanische Begriffe.
Die Texte der Weisen würden nicht leicht für ihn zu verstehen sein, aber er musste wissen, was Wynn aus der riesigen Bibliothek jener eisigen Burg mitgebracht hatte. Und ob ein Zusammenhang mit der geschwärzten Schriftrolle bestand. Chane wollte sich unbedingt den Inhalt des Folianten ansehen und wartete lange, bis sich schließlich die Tür des Skriptoriums öffnete.
»Hinaus mit euch«, erklang eine näselnde Stimme. »Ihr alle.«
»Hast du den Schlüssel?«, fragte ein Mädchen.
»Nein, ich hab ihn drinnen gelassen, um euch zu ärgern! Sputet euch! Meister a’Seatt wartet.«
Chane kroch ein wenig nach vorn und spähte über den Dachrand.
Ein dunkelhaariger Mann, der eine graue Jacke und einen schwarzen Hut mit breiter Krempe trug, stand unten auf der Straße. Ein alter, kleiner und kahl werdender Mann mit Brille scheuchte die Schreiber aus dem Laden. Ein junges Mädchen mit wirrem Haar und dunkler Haut folgte dem humpelnden Alten aus dem Skriptorium.
Chane fühlte sich von einem Schaudern erfasst.
Etwas an dem dunkelhaarigen Mann beunruhigte ihn. Doch inzwischen trug er
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