Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Welstiels Ring schon so lange, dass seine besondere Wahrnehmung als Untoter darunter gelitten hatte.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Angestellten des Skriptoriums gingen die Straße hinunter. Chanes Unbehagen verflüchtigte sich, und er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gebäude unter ihm.
Er schloss die Augen, legte sich hin und streckte den Kopf über den Dachrand. Dann atmete er tief ein, nahm die Gerüche des Abends in sich auf und versuchte festzustellen, ob sich noch jemand in dem Skriptorium befand.
Er nahm nur die Reste von Gerüchen war, und als er lauschte, blieb alles still – es schien sich niemand mehr in dem Laden aufzuhalten.
Chane kroch auf dem Dach zurück und überlegte, wie er sich Zugang verschaffen sollte.
Durch die Tür oder ein Fenster einzubrechen, kam nicht infrage. Es war noch früh am Abend; jemand konnte ihn sehen oder hören. Chane sah nur eine andere Möglichkeit und weckte das Ungeheuer in sich, das immer nach Blut verlangte.
Gier stieg in ihm auf, machte seine Fingernägel härter und gab ihm zusätzliche Kraft.
Lautlos kroch er nach hinten und bohrte seine Fingernägel dort in die Schindeln des Dachs.
Er löste insgesamt sieben, ohne zu viele Geräusche zu verursachen. Die Bretter darunter erwiesen sich als fest und stabil, ein Problem, mit dem Chane gerechnet hatte. Er erhob sich halb, blickte über die Straße und sah niemanden. Dann schlug er ein Loch in die Bretter und erweiterte es, bis es groß genug war, dass er hindurchklettern konnte.
Kurz darauf stand er im hintersten Raum des Skriptoriums und machte Gebrauch von seiner Nachtsicht. Dennoch fiel es ihm schwer, etwas zu erkennen, denn es gab keine Fenster in dem Zimmer. Er erkannte Schreibtische, Stühle, Stapel aus Pergament und Papier.
Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen und bemerkte Einzelheiten erst dann, wenn sich die entsprechenden Objekte direkt vor ihm befanden. Bei den Regalen der Rückwand fand er eine Laterne und eine Dose mit Streichhölzern. Er zündete die Laterne an und drehte das Einstellrad, bis nur ein matter Schein durchs Zimmer fiel. Die Laterne ließ er im Regal stehen, drehte sich um und hielt Ausschau.
Wo würde ein Meisterschreiber den Folianten aufbewahren?
Eine Ledermappe lag nur zwei Schritte entfernt auf einem kleinen Nebentisch.
Chane trat vor, doch dann zögerte er.
Warum lag der Foliant dort, wo ihn jeder sehen konnte? Es erschien ihm irgendwie unprofessionell. Vielleicht hatten die Schreiber so lange daran gearbeitet, dass ihnen nicht mehr genug Zeit geblieben war, ihn an einem sicheren Ort unterzubringen. Aber selbst das erschien Chane nicht sehr plausibel.
Er nahm den Folianten.
Der Dicke nach zu urteilen, war er komplett. Chane ließ seinen Blick über den Schreibtisch in der Nähe und auch die anderen wandern – alle waren ordentlich aufgeräumt. Nirgends lagen Abschriften oder Transkriptionsblätter; jene Unterlagen schienen verstaut worden zu sein.
Er löste die Schnur des Folianten und öffnete ihn.
Als er all die Blätter mit den Schriftzeichen aus Tinte und Holzkohle sah, seufzte Chane erleichtert. Aber er durfte hier nicht bleiben. Und er konnte den Docht der Laterne auch nicht höher drehen und riskieren, dass Licht durch eine Ritze in den Fensterläden nach draußen fiel.
Erneut drehte Chane das Einstellrad der Laterne, bis ihr Licht ganz verschwunden war, und eilte dann in den vorderen Raum des Skriptoriums.
Dort öffnete er vorsichtig ein Fenster, gerade weit genug, um auch den Fensterladen ein wenig aufzuklappen. Er hielt den Folianten ganz nahe an die Öffnung und drehte ihn so, dass ein wenig Licht von der Straßenlaterne aufs oberste Blatt fiel.
Enttäuschung machte sich in ihm breit.
Der Umgang mit dem Begaine-Syllabar fiel ihm schon unter normalen Umständen schwer genug; hinzu kam, dass einige der Weisen eine schreckliche Handschrift hatten. Und was alles noch schlimmer machte: Die Notizen waren mit zugespitzten Holzkohlestiften geschrieben. Billiger und praktischer als Federkiel und Tinte – aber oft waren die Zeichen verwischt. Einige Anmerkungen waren gar nicht in den Symbolen des Begaine-Syllabars verfasst, doch es gelang ihm nicht, sie zu entziffern. Viele von ihnen schienen aus der Originalsprache kopiert zu sein, die Chane nicht einmal zu identifizieren vermochte.
Er sah sich einige andere Blätter an und gab es schließlich auf, als er begriff, dass er mehr Zeit brauchte – Zeit, die er nicht im
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