Dhampir
von Zuversicht und Selbstsicherheit verließ Wynn, als sie die volle Aufmerksamkeit des Rates der An’Cróan auf sich spürte.
»Willkommen«, sagte Brot’an.
Er trug graugrüne Kleidung, aber keinen Mantel. Ein waldgrünes Band hielt sein von grauen Strähnen durchzogenes Haar zusammen.
Sgäile und seine Wächter wichen zurück.
»Worauf warten wir?«, flüsterte Wynn.
»Auf den Ältesten Vater«, antwortete Brot’an. »Es dürfte ein recht dramatischer Auftritt werden.«
Wynn hob die Brauen. Hörte sie da Sarkasmus?
»Wer ist der Ankläger?«, fragte Magiere leise.
»Der Rat hat noch keinen bestimmt«, erwiderte Brot’an. »Zuerst müssen die gegen dich gerichteten Behauptungen geklärt werden. Fréthfâre vertritt dabei die Anklage und Sgäilsheilleache die Verteidigung.«
Leesil seufzte.
Von der Lichtung und den Brücken-Ästen der Bäume gingen die Blicke zahlloser bernsteinfarbener Augen zu Magier e – und auch zu Leesil. Die Elfen hinter Brot’ans Tisch waren so nahe, dass Wynn in ihren Gesichtern Neugier, Zorn und unheilvolle Faszination erkennen konnte. Die ältere Frau und ihre Begleiter zeigten nur kühles Interesse.
Als Kind hatte Wynn zusammen mit Domin Tilswith einen Viehmarkt besucht, und an einem Stand war ein mit nur drei Beinen geborenes Kalb zu sehen gewesen. Damals waren dort alle Besucher stehen geblieben und hatten gestarrt. Wie jenes Kalb kam sich Wynn jetzt vor, und sie vermutete, dass sich Magiere noch schlechter fühlte.
Köpfe in der Menge der Elfen drehten sich, erst wenige und dann immer mehr. Wynn reckte den Hals, auf der Suche nach dem, was die Aufmerksamkeit der Zuschauer von ihnen ablenkte.
Fréth betrat die Lichtung, ebenso gekleidet wie Brot’an. Auch sie trug das Haar zusammengebunden. Vier Anmaglâhk folgten ihr, die Enden von Holzstangen auf ihren Schultern.
Zwischen den Trägern saß der Älteste Vater auf einem verzierten Stuhl mit runden Seiten. Er war in eine graugrüne Decke gehüllt, die Farbe der Anmaglâhk. Zahlreiche flüsternde Stimmen begleiteten sein Erscheinen.
Die Decke ragte bis in die Stirn des Ältesten Vaters und sorgte dafür, dass sein Gesicht im Schatten blieb, aber das Licht der Sonne schien ihn dennoch zu blenden, denn er blinzelte. Hier im Freien sah er mit seinem ausgemergelten Gesicht und der blassen Haut noch schlimmer aus als im Kerzenschein seiner unterirdischen Wohnbaumkammer. Die Träger setzten ihn neben Fréths Tisch ab, und er drehte langsam den Kopf, ließ den Blick über die Menge wandern.
Sgäile trat in die Mitte der Lichtung, hob den Kopf und rief auf Elfisch: »Ich heiße das Volk und seine von den Ältesten repräsentierten Clans willkommen. Die Verhandlung kann beginnen.«
Sofort erklang Fréthfâres Stimme. »Brot’ân’duivé, du verstößt bereits gegen unsere Gepflogenheiten. Nur die Angeklagte darf neben dir stehen. Die anderen haben an deinem Tisch nichts verloren.«
Brot’an trat hinter dem Tisch hervor und an Magiere vorbei. So ruhig er auch wirkte, seine Stimme donnerte über die Lichtung.
»Diese Angelegenheit betrifft auch Léshil, und daher hat er ein Recht darauf, zugegen zu sein. Und ich wählte die Frau namens Wyn n … «, er deutete auf die junge Weise, »… als Magieres Dolmetscherin.«
Alle Blicke richteten sich auf Wynn, die unwillkürlich zurückwich und sich halb hinter Leesil duckte.
»Die Angeklagte hat das Recht, alles Gesprochene zu hören«, fuhr Brot’an fort. »Und zwar während es gesprochen wird, nicht anschließend. Ich werde nicht zulassen, dass die Anklage alles komplizierter macht, indem sie verlangt, dass ich nicht nur als Magieres Fürsprecher auftrete, sondern auch für sie dolmetsche! Das wäre ein Verstoß gegen die Gebote der Höflichkeit, wenn nicht gegen das Gesetz.«
Fréth wollte etwas erwidern, doch Sgäile kam ihr zuvor, indem er die Hand hob und auf Brot’an zeigte.
»Der Vertreter der Verteidigung bewegt sich im Rahmen von Tradition und Gesetz.« Er wandte sich an Fréth und fügte hinzu: »Die Vertreterin der Anklage hat keinen Grund für weitere Beschwerden dieser Art.«
Wynn übersetzte rasch für Magiere und Leesil und hatte dabei Schwierigkeiten mit einigen Nuancen des Dialekts. Am vergangenen Abend hatte Brot’an darauf hingewiesen, dass bei der Verhandlung Elfisch gesprochen wurde, wie es die Tradition verlangte; auch beherrschten nur wenige Älteste eine andere Sprache. Abgesehen davon hatte er kaum etwas gesagt und seine Einsilbigkeit mit dem
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