Diabolos (German Edition)
wirklich hieß: ich will nicht, ich kann nicht, ich fürchte mich. Es war schwer für ihn, sich das selber einzugestehen. Erst nach einer Weile hörte er die neuen Töne Gottes, die Verschiebung der Akkordreihenfolge und auch die Verschiebung des Taktes. Er hörte zu und war sprachlos. Sein Rhythmus war Gottes Herzschlag. Er wollte, dass er sein ganzes Wesen überflutete. Tanze, sagte der neue Rhythmus, der tiefe neue Furchen grub, sein Leben umgrub. Er hätte nicht gedacht, dass Rhythmus nicht aktiv sein musste, dass Rhythmus Hingabe sein könnte. Die Veränderung war ohne Druck geschehen, ohne Zwang und Strafe. Der Tanz-Kampf war ein Tun, aber geboren aus dem Schlaf in seinen Armen. »Du darfst leben«, sang Gottes Rhythmus. »Du darfst sein, du darfst du selber sein.«
Der Schmerz platzte auf wie eine überreife, duftende Frucht und durfte sich zeigen. Der Rhythmus zwang ihn nicht, aber hatte eine Macht, die wie ein Zwang war, eine Lust, zu wollen: loslassen und leben zu wollen. Sein alter Schmerz ließ seine Zähne los, mit denen er sich an seiner Seele, an seiner Haut festgebissen, ihn gefangen gehalten hatte. Sein Herz hatte statt Aussatz Augen bekommen, zu sehen.
»Woher kommt der neue Rhythmus?«, fragte er Gott. Seine Nähe durchsiebte und durchschüttelte. Sie sprach und lobte auf dem Rhythmus seines Herzens. Sie saßen lange schweigend da. Einfach zu sein, ohne zu kämpfen, war für ihn fremd. In der Zeit, als er in seiner Nähe geschlafen hatte, was hatte er verpasst? Er wappnete sich gegen neue Schmerzwellen. Gott fing an, ihn zu wiegen wie ein kleines Kind.
»Warum hast du so Angst, zu verpassen?« Seine Stimme war beruhigend und ernst. »Denkst du, ich würde dir Zeit rauben?«
Er spürte eine unglaubliche Wut.
»Du wirst sehen, dass es eine entscheidende Zeit war, loszulassen«, sagte er.
Lärm und Ablenkung krochen und flatterten wie Flügelameisen davon. Mit Gottes Herzschlag war die Realität nackt und sehr ernüchternd, aber nicht mehr angsteinflößend.
»Es tut nicht mehr weh, dass es nicht mehr weh tut«, sagte er erstaunt. Seine Arme wurden nicht müde, ihn zu stützen.
»Muss es weh tun?«, fragte Gott freundlich. »Muss alles weh tun?«
Frei sein tut weh. Versteckt wie eine Mine in einem Feld, einem Schlachtfeld, lag die bloße Abhängigkeit.
»Freisein tut nicht mehr weh«, sagte Gott.
Illustration – Viktor Bogdanovic
Nachtbesuch
Herbert Blaser
Die Nacht ist tiefschwarz und still. Ich sitze am Kopfende des großen Bettes und betrachte das schlafende Mädchen. Viele Gedanken jagen erbarmungslos durch mein Bewusstsein.
Die Kerze auf dem Nachttisch flackert. Sie wirft ein Schattenspiel über die braunen Locken und über das bleiche Gesicht der ruhenden Kreatur. Deren Brustkorb hebt und senkt sich im Gleichklang des Atems. Rundum bleibt die Dunkelheit ohne Geräusch und scheint jeden Ton zu verschlucken.
Ich beobachte die Kleine wachsam und verharre regungslos.
Meine Erregung wächst. Ich kann kaum an mich halten. Ich denke an die unzähligen Nächte, die ich in Angst und Hoffnung durchlebt habe; hilflos gefangen zwischen Not und Befreiung.
Wie oft habe ich die gleiche Situation erfahren, wie oft das scheinbar Leichte in eine Tat umsetzen wollen? Ich weiß es nicht mehr. Wie oft habe ich gebangt, gehofft, verlangt, verworfen und wieder begehrt? Bis jetzt vergebens. Ich weiß, dass ein Mensch nur im Wachzustand von seinem Toggeli befreit werden kann. Nur dann ist eine erfolgreiche Überführung möglich.
Das heißt, der Inkubus muss während seines Geschehens unterbrochen werden. Unmittelbar und direkt. Das fordern die Gesetze der Anderswelt. Sonst nützt die Hilfe nichts.
So etwas ist nicht einfach. Oft ist die Befreiung nur mithilfe eines geübten Exorzisten durchführbar. Wenn die Loslösung misslingt, besteht große Gefahr für die bemitleidenswerte Existenz. Das ist in meinem Bewusstsein eingegraben, deshalb bin ich hier. Ich bin ganz still, ich warte.
Die Worte der Schwester Hildegard dringen durch meine verschwommene Erinnerungswelt. Ihr Bild manifestiert sich in meinem Gedächtnis. Vergangenes wird plötzlich gegenwärtig.
Ich sehe sie auf der Bank in der Kirche der Madonna del Sasso bei Brissago sitzen, sie hält meine Hand und flüstert eindringlich: »Ein Toggeli ist ein Wesen zwischen Leben und Tod. Es ist in der Zwischenwelt gefangen und sucht einen neuen Träger, der es von seiner Pein erlösen kann, denn es leidet unvorstellbar und möchte zurück zur
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