Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diagnose zur Daemmerung

Diagnose zur Daemmerung

Titel: Diagnose zur Daemmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
Vom Netzwerk:
noch zu erleben. Und jetzt …« Sie verstummte und schien gedanklich abzuschweifen.
    Über den Tisch hinweg starrte ich Jake finster an. »Ich bin nicht die Einzige hier, die Fortpflanzungsorgane hat.«
    »Hey«, protestierte Jake. Da ich genau wusste, was jetzt kommen würde, stöhnte ich laut auf. »Wenn du Debbie und mich damals nicht unterbrochen hättest, wäre das vielleicht Moms große Chance geworden. Mann, hast du uns damals überrascht – Debbie hat gar nicht mehr aufgehört zu kreischen.«
    »O Gott, erinnere mich nicht daran …« Resigniert schlug ich mir mit der Hand vor die Stirn, doch meine Mutter lachte. Debbie und ich waren in der High School die besten Freundinnen gewesen, bis ich herausgefunden hatte, dass sie auf meinen Bruder stand. »Diese Sache hat mir ein lebenslanges Trauma eingebracht.« Ich drehte mich zu meiner kichernden Mutter um. »Dabei dachte ich immer, du wolltest, dass wir keusch bleiben? Da solltest du doch auf meiner Seite sein!«
    Mit einem Mal verschwand die Belustigung aus ihrem Blick, und sie wirkte krank. Ihre zartrosa Haut wurde bleich, sie drückte eine Hand an den Mund und stürzte zur Gästetoilette.
    »Was – da siehst du, was du angerichtet hast, Edie«, beschuldigte mich Jake. Die Macht der Gewohnheit.
    »Ich habe gar nichts angerichtet .« Langsam stand ich auf. Würgegeräusche drangen ins Wohnzimmer.
    Ängstlich blickte Jake in Richtung Toilette. Sein Leben war bestimmt nicht einfach, aber darauf konnte ihn wahrscheinlich nichts davon vorbereiten. »Wenn du sie nicht so aufgeregt hättest, ginge es ihr jetzt noch gut«, setzte er nach.
    »Ich? Sie aufregen? Die Tochter mit dem anständigen Job? Was meinst du denn, wer der Grund dafür ist, dass sie nächtelang heult? Ich oder du?« Meinetwegen konnten wir das jetzt und hier endgültig ausfechten. Aber er sah so verängstigt aus, wie ich mich fühlte, wenn es um Mom ging. Meine Wut verpuffte. Ich war Krankenschwester; wenn jemand kotzte, wusste ich, was zu tun war. Also wandte ich mich ab, ging zu meiner Mutter auf die Toilette und schloss die Tür hinter mir.
    Ich war also wieder einmal das brave Kind. Der Platz in der Toilette reichte nicht einmal aus, um mich neben Mom zu knien, also setze ich mich auf das Schränkchen neben dem Waschbecken und streichelte sanft ihren Hinterkopf.
    Das brave Kind zu sein bringt einem nie eine Belohnung ein. Es heißt zwar immer, ein rechtschaffenes Leben sei Lohn genug, und jeder versucht, sich das einzureden, aber wenn man selbst das brave Kind ist und jemand anders das schwarze Schaf, dann kriegt doch der die ganze Aufmerksamkeit und Zuwendung; schon schwer, da nicht eifersüchtig zu werden.
    Ich wartete schweigend ab, bis Mom fertig war. Dann holte ich einen Waschlappen aus dem Regal über der Toilette, feuchtete ihn am Wasserhahn neben meinem Hintern an und reichte ihn ihr.
    Sie wischte sich damit das Gesicht ab. »Ich hasse es, wenn das mit mir passiert.«
    »Ich hasse es auch«, versicherte ich ihr. Dann dachte ich einen Moment nach und ergänzte: »Also, den Krebs. Wenn ich müsste, würde ich die ganze Nacht hier drinbleiben, während du kotzt.«
    Sie lachte, musste husten und gab mir den Lappen zurück.
    »Können sie denn gar nichts tun?« In meinem Kopf hatte sich die Frage nicht so kläglich angehört wie sie klang. Jetzt, wo wir hier drin allein waren, ohne Peter, ohne Jake, sollte meine Mami mir sagen, dass alles gut werden würde. Auch wenn es nicht stimmte.
    »Ich finde es furchtbar, dass ich dir das antun muss, Edie.« Sie lächelte bittersüß.
    »Es ist ja nicht deine Schuld. Ich will nur sichergehen, dass …«
    »Ich bin mir sicher.« Sie sah sich in dem engen Raum um. »Ich will nicht mehr so weitermachen.«
    »Das ist alles so unfair.« Eigentlich war es doch ihre Aufgabe, sich um mich zu kümmern, wenn ich krank war. Dieser Rollentausch fühlte sich so falsch an. »In meiner Vorstellung passiert so etwas nur Großeltern. Aber nicht den Eltern, verstehst du?« Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Ich werde bestimmt kein Kind bekommen, nur weil du Krebs hast, Mutter. Verdammt, irgendwann wirst du deinen Enkel schon kriegen. Du musst nur diesen Mist hier überstehen.«
    Das entlockte ihr ein schwaches Lächeln. »Ich werde es versuchen«, versprach sie. In diesem Moment wurde mir klar, wie unfair ich eigentlich war. Jemandem zu sagen, er solle eine tödliche Krankheit überstehen, war ziemlich mies. Da konnte man genauso gut zu einem Süchtigen

Weitere Kostenlose Bücher