Diamantene Kutsche
ausgelöst worden, was etwa der Sprengkraft einer sechszölligen Granate entsprach. Jede andere Brücke auf dieser Strecke hätte eine solche Erschütterung unbeschadet überstanden, nicht aber die baufällige Tesoimenitski-Brücke, zumal sie zugleich von einem schweren Zug passiert wurde. Die Saboteure hatten Ort und Zeit mit Bedacht gewählt.
Auch das Rätsel, wie die Täter die Mine in ein streng bewachtes Objekt bringen und direkt unter den Rädern eines Militärtransports zur Explosion schaffen konnten, war gelöst. Die Experten hatten an der Einsturzstelle Lederfetzen unbekannter Herkunft gefunden undmikroskopisch kleine Splitter von dickem Laborglas. Nach einigem Kopfzerbrechen fanden sie eine Erklärung: ein längliches zylindrisches Lederetui und ein schmales, spiralförmiges Glasröhrchen.
Das genügte Fandorin, um sich ein Bild vom Tathergang zu machen.
Der Melinitsprengkörper hatte sich in einem Lederetui befunden – etwa in einer Klarinettenhülle oder ähnlichem. Der Sprengkörper hatte keinerlei äußere Hülle gehabt – das hätte ihn nur unnötig schwer gemacht und die Sprengkraft gemindert. Es war ein chemischer Zünder verwendet worden, der zeitverzögert reagierte. Das Glasröhrchen mit dem Sprengstoff wurde mit einer Nadel durchstochen, doch das explosive Gemisch floß nicht sofort heraus, sondern nach einer halben oder einer ganzen Minute, je nach Länge und Konstruktion der Röhre.
Kein Zweifel: Die Bombe war aus dem Kurierzug abgeworfen worden, der unmittelbar vor dem Militärtransport gefahren war.
Die Situation, bei der beide Züge so gefährlich kurz hintereinander fuhren, war absichtlich herbeigeführt worden – mittels der fingierten Depesche, die der Telegrafist von Kolpino überbracht hatte (der natürlich spurlos verschwunden war).
Eine Weile zerbrach Fandorin sich den Kopf darüber, wie genau die Bombe abgeworfen wurde. Durchs Abteilfenster? Wohl kaum – zu groß war das Risiko, daß das Etui durch den Aufprall in den Fluß geschleudert wurde. Dann kam er auf die Lösung: Durch das Abflußloch in der Toilette. Deshalb auch das schmale Etui.
Ach, hätte die Zeugin ihn nur nicht mit ihrem verdächtigen Schwarzhaarigen behelligt! Hätte er nur getan, was er ursprünglich vorgehabt hatte: alle Passagiere aufgeschrieben und vernommen. Selbst wenn er sie alle hätte laufenlassen müssen, könnte er sie nun noch einmal befragen – bestimmt hätte sich jemand an den reisenden Musiker erinnert, und höchstwahrscheinlich war er nicht allein unterwegs gewesen, sondern in Begleitung …
Als das Geheimnis des Unglücks gelüftet war, spielte Fandorins verletzte Eigenliebe keine Rolle mehr – er hatte nun vordringlichere Sorgen.
Fandorins gesamte Tätigkeit bei der Eisenbahngendarmerie, die bereits ein ganzes Jahr andauerte, diente einem einzigen Zweck: dem Schutz des empfindlichsten Abschnitts im Körper des angeschlagenen russischen Dinosauriers, seiner Hauptarterie. Der rührige japanische Räuber, der den verwundeten Koloß von mehreren Seiten attackierte, würde früher oder später darauf kommen, daß er den Gegner nicht unbedingt zu Boden werfen mußte – er brauchte nur ein einziges Blutgefäß zu durchtrennen: die Transsibirische Eisenbahnstrecke. Ohne Munition, Verpflegung und Nachschub war die Mandschurei-Armee verloren.
Die Tesoimenitski-Brücke war lediglich eine Kraftprobe gewesen. In zwei Wochen konnte der Verkehr vollständig wieder aufgenommen werden, solange fuhren die Züge einen Umweg über die Strecke Pskow-Staraja Russa, was ein paar Stunden länger dauerte. Sollte aber ein ähnlicher Anschlag einen beliebigen Punkt hinter Samara treffen, von wo aus die Magistrale sich in nur einer Linie über achttausend Kilometer erstreckte, hätte das eine Unterbrechung von mindestens einem Monat zur Folge. Das wäre eine Katastrophe für die Armee von Linewitsch. Und dann – wer hinderte die Japaner, einen Sabotageakt nach dem anderen zu verüben?
Natürlich, die Transsib war neu, nach modernster Technologie gebaut. Und Fandorin hatte dieses Jahr gut genutzt und ein passables Wachsystem eingeführt, überdies waren die sibirischen Brücken nicht zu vergleichen mit der Tesoimenitski-Brücke, die ließen sich mit zehn Funt Melinit nicht sprengen. Aber die Japaner waren raffiniert, sie würden sich etwas anderes ausdenken.
Das Schlimmste war, daß sie diesen Schienenkrieg überhaupt begonnen hatten. Denn sie würden ihn fortsetzen …
Dieser Gedanken (der leider
Weitere Kostenlose Bücher