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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Talismans zuzukommen schien, die in keinem Verhältnis zu ihrer tatsächlichen Funktion stand. Der Constable nahm ein Stück Papier zur Hand, auf dem viele handschriftliche Namen und Angaben und Zahlen geschrieben standen. Er stellte sich mit dem Rücken vor das nächste Fenster und lehnte sich über den Sims zurück, um in den Genuß der Helligkeit zu kommen. Er hielt das Papier ins Licht, dann veränderte er mit einer recht schwunghaften Bewegung die Position seines Kinns derart, daß sich die Gläser seiner Lesebrille zwischen Pupillen und dem Blatt Papier befanden. Nachdem er diese Elemente allesamt in die optimale Geometrie manövriert hatte, gab er einen leisen Seufzer von sich, als wäre er mit der Anordnung zufrieden, und betrachtete Nell und Harv einen Moment über die Brille hinweg, als wollte er zum Ausdruck bringen, daß sie einige wertvolle Tricks lernen konnten, wenn sie ihn genau im Auge behielten. Nell beobachtete ihn fasziniert, weil sie nicht viele Menschen mit Brille zu Gesicht bekam.
    Der Constable richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Blatt Papier und überflog es eine Zeitlang mit gerunzelter Stirn, bis er plötzlich eine Reihe von Zahlen ausrief, die seinen Besuchern willkürlich vorkamen, für den Constable selbst jedoch zutiefst bedeutsam und logisch zu sein schienen.
    Das schwarze Telefon hatte eine Metallscheibe mit fingergroßen Löchern am Rand. Der Constable klemmte den Telefonhörer über seiner Epaulette ein, dann steckte er einen Finger in unterschiedliche Löcher und drehte die Scheibe damit gegen die Zugkraft einer Feder herum. Eine kurze, aber überaus herzliche Unterhaltung folgte. Dann legte er den Hörer auf und verschränkte die Hände über dem Bauch, als hätte er seine Aufgabe zu solcher Zufriedenheit erfüllt, daß besagte Extremitäten nun überflüssigem Zierat gleichkamen. »Es dauert einen Moment«, sagte er. »Bitte laßt euch Zeit und verbrüht euch nicht an dem Tee. Hättet ihr gerne etwas Mürbekuchen?«
    Nell war nicht vertraut mit dieser Gaumenfreude. »Nein, danke, Sir«, sagte sie, aber der stets pragmatische Harv ließ durchblicken, daß er gerne davon kosten würde. Plötzlich fanden die Hände des Constable eine neue Existenzberechtigung und machten sich emsig in den dunklen Ecken alter Holzschränke ringsum in dem Zimmer zu schaffen. »Übrigens«, sagte er zerstreut, während er sich seiner Suche widmete, »solltet ihr die Absicht haben, das Tor tatsächlich zu
passieren,
will sagen, wenn ihr Dovetail einen
Besuch
abstatten möchtet, wozu ihr herzlich eingeladen seid, so solltet ihr einiges über unsere Vorschriften wissen.«
    Er stand auf, drehte sich zu ihnen um und ließ dabei eine Blechdose mit der Aufschrift M ÜRBEKUCHEN sehen.
    »Um präziser zu werden, die Schlagstöcke und das Messer dieses jungen Herrn müssen aus seiner Hose verschwinden und hierbleiben, in der liebevollen Obhut von mir und meinen Kollegen, und ich müßte einen gründlichen Blick auf diesen monströsen Klotz von Stabprozessoren, Batterien, Sensoren und Was-auch-immer werfen, den die junge Lady, in der Verkleidung eines Buches, wenn ich mich nicht irre, in ihrem Rucksack trägt. Hmmm?« Damit drehte sich der Constable mit sehr hoch gezogenen Brauen zu ihnen um und schüttelte die Blechdose.
    Constable Moore, wie er sich vorstellte, untersuchte Harvs Waffen mit mehr Sorgfalt als wirklich erforderlich zu sein schien, als wären sie soeben aus einer Pyramide exhumierte Reliquien. Er ließ es sich nicht nehmen, Harv zu ihrer wirkungsvollen Machart zu beglückwünschen und laut über die schwerwiegende Torheit zu meditieren, die jemand an den Tag legte, der sich mit einem jungen Burschen wie Harv anlegen wolle. Die Waffen verschwanden in einem kleinen Schränkchen, das der Constable abschloß, indem er ihm einen mündlichen Befehl erteilte. »Und nun das Buch, junge Lady«, sagte er mit aller Liebenswürdigkeit zu Nell.
    Sie wollte die Fibel nicht aus der Hand geben, erinnerte sich aber an die Kinder auf dem Spielplatz, die ihn ihr wegnehmen wollten und dafür mit Elektroschocks oder etwas Ähnlichem bestraft worden waren. Also reichte sie ihm das Buch. Constable Moore nahm es äußerst behutsam in beide Hände und gab einen leisen Seufzer der Bewunderung von sich. »Ich sollte Sie daraufhinweisen, daß es mitunter äußerst gemein zu Leuten sein kann, die es mir seiner Meinung nach stehlen wollen«, sagte Nell, biß sich aber sofort auf die Lippen und hoffte, sie habe damit

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