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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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wo wir hingehen, mußt du auf deine Manieren achten. Sag nicht ›Erkläre dies‹ oder ›Erkläre das‹.«
    »Würde es deine Zeit über Gebühr in Anspruch nehmen, mir in aller gebotenen Kürze die Bedeutung des Wortes
Etikette
zu erläutern?« sagte Nell.
    Wieder stieß Rita dieses nervöse Lachen aus und betrachtete Nell mit einem Ausdruck, der an kaum verhohlene Angst erinnerte. Während sie die Straße entlangritten, sprach Rita eine Zeitlang von der Etikette, aber Nell hörte nur mit halbem Ohr zu, weil sie zu kapieren versuchte, weshalb sie plötzlich imstande war, Erwachsenen wie Rita angst zu machen.
    Sie ritten durch den am dichtesten besiedelten Teil der Stadt, wo alle Häuser und Gärten grandios waren und keine zwei Straßen sich glichen: Manche waren sichelförmig, manche wie Innenhöfe oder Kreise oder Ovale geformt, die Grünflächen umgaben, und selbst die langen Straßen wiesen immer wieder Biegungen und Kurven auf. Von dort ging es weiter in ein weniger dicht besiedeltes Gebiet mit vielen Parks und Spielplätzen, und schließlich blieben sie vor einem prunkvollen Gebäude mit zahlreichen Türmchen stehen, das von einem schmiedeeisernen Zaun und einer Hecke umgeben wurde. Über der Tür stand: Miss M ATHESONS A KADEMIE DER DREI G RAZIEN .
    Miss Matheson empfing sie in einem gemütlichen kleinen Zimmer. Nell schätzte, daß sie zwischen achthundert und neunhundert Jahre alt sein mußte, und sie trank Tee aus fingerhutgroßen Tassen mit aufgemalten Bildern. Nell versuchte, geradezusitzen und aufmerksam zuzuhören, wobei sie gewisse vornehme junge Mädchen nachahmte, von denen sie in der Fibel gelesen hatte, aber ihre Blicke schweiften immer wieder zu den Bücherregalen, den Bildern auf dem Teeservice und dem Gemälde an der Wand über Miss Mathesons Kopf, das drei junge Damen zeigte, die in durchscheinenden Gewändern in einem Wäldchen tanzten.
    »Unser Kontingent ist voll, das Semester hat bereits angefangen, und du erfüllst keine der Vorbedingungen. Aber du hast ausgezeichnete Empfehlungen«, sagte Miss Matheson, nachdem sie ihre kleine Besucherin längere Zeit betrachtet hatte.
    »Pardon, Madam, aber ich verstehe nicht«, sagte Nell.
    Miss Matheson lächelte, so daß sich Runzeln wie Sonnenstrahlen in ihrem Gesicht ausbreiteten. »Ist nicht so wichtig. Wollen wir nur sagen, daß wir einen Platz für dich geschaffen haben. Diese Institution hat es sich zur Gewohnheit gemacht, eine kleine Anzahl von Schülerinnen aufzunehmen, die nicht aus New Atlantis stammen. Die Verbreitung atlantischer Sitten und Gebräuche ist unser Hauptanliegen, als Schule wie als Gesellschaft. Im Gegensatz zu manch anderen Phylen, die sich durch Bekehrung oder unterschiedslose Ausbeutung der natürlichen biologischen Eigenschaften vergrößern, die, im Guten wie im Schlechten, allen Personen gemeinsam sind, sprechen wir die Eigenschaften der Vernunft an. Alle Kinder werden mit den Eigenschaften der Vernunft geboren, sie müssen nur entwickelt werden. Unsere Akademie hat jüngst mehrere junge Damen nichtatlantischer Herkunft aufgenommen, und wir gehen davon aus, daß alle zu gegebener Zeit den Eid leisten werden.«
    »Pardon, Madam, aber welche ist Aglaia?« fragte Nell, die über Miss Mathesons Schulter hinweg das Gemälde betrachtete.
    »Pardon?« sagte Miss Matheson und leitete die Prozedur ein, ihren Kopf zum Nachsehen herumzudrehen, was in ihrem Alter einem technischen Unterfangen von ehrfurchtgebietender Komplexität und Dauer gleichkam.
    »Da Ihre Schule den Namen der drei Grazien trägt, habe ich mich zu der Annahme verstiegen, daß jenes Gemälde dort ebendieses Thema darstellt«, sagte Nell, »zumal sie mehr wie Grazien aussehen, nicht wie Furien oder Parzen. Ich frage mich, ob Sie die Freundlichkeit besäßen, mir mitzuteilen, welche der drei Damen Aglaia oder Glanz darstellt.«
    »Und die beiden anderen sind?« fragte Miss Matheson aus dem Mundwinkel heraus, da sie es mittlerweile fast zur Gänze geschafft hatte, den Kopf zu drehen.
    »Euphrosyne oder Frohsinn und Thalia oder Blüte«, sagte Nell.
    »Würdest du eine Vermutung wagen?« sagte Miss Matheson.
    »Die rechte trägt Blumen und könnte demzufolge Thalia sein.«
    »Das würde ich eine logische Schlußfolgerung nennen.«
    »Diejenige in der Mitte sieht so fröhlich aus, daß sie Euphrosyne sein muß, und die zur Linken wird von Sonnenstrahlen beleuchtet, daher ist sie wahrscheinlich Aglaia.«
    »Nun, wie du sehen kannst, trägt keine ein Namensschild,

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