Diamond Age - Die Grenzwelt
gerne zwischen den Wildblumen saß und las. Das Haus von Constable Moore war ohne den Constable ein Ort der Melancholie, und sie hatte ihn seit einigen Wochen nicht mehr gesehen. In den letzten zwei Jahren war er immer häufiger aus beruflichen Gründen abkommandiert worden und verschwand (vermutete sie) erst tage-, dann wochenlang im Inneren von China; zurück kam er stets erschöpft und deprimiert und suchte Trost im Whiskey, den er in erstaunlich bescheidenen Mengen, aber mit wilder Konzentration zu sich nahm, und im mitternächtlichen Du-delsackspiel, mit dem er jedermann in Dovetail aufweckte, und sogar ein paar sensible Schläfer in der Klave New Atlantis.
Während ihrer Reise vom Lager der Mäusearmee zum ersten der Schlösser mußte Nell alles Geschick aufbieten, was sie im Lauf der jahrelangen Reise durch das Land Jenseits gelernt hatte: Sie kämpfte mit einem Berglöwen, wich einem Bären aus, überquerte Bäche, entfachte Lagerfeuer, baute Unterkünfte. Bis es Nell gelungen war, Prinzessin Nell zu dem uralten und moosbewachsenen Portal des ersten Schlosses zu bringen, schien die Sonne horizontal über die Wiese, und es wurde ein wenig kühl. Nell wickelte sich in einen Thermoschal und stellte den Thermostat auf etwas weniger als gemütlich warm ein; sie hatte festgestellt, daß ihr Geist träge wurde, wenn sie es sich allzu bequem machte. Sie hatte heißen Tee mit Milch in einer Thermoskanne dabei, und die Sandwiches würden eine Weile reichen.
Der höchste aller Türme des Schlosses wurde von einer großen Windmühle mit vier Flügeln beherrscht, die sich unablässig drehten, obwohl man mehrere hundert Meter tiefer, bei Nell, nur eine schwache Brise spüren konnte.
In das Portal eingelassen war eine kleine Tür, und an dieser Tür befand sich eine kleine Klappe. Unter der Klappe hing ein großer Klopfer aus Bronze in Form des Buchstabens T, dessen Form freilich kaum mehr zu erkennen war, so sehr hatten ihn Moos und Flechten verkrustet. Prinzessin Nell gelang es nur unter großer Anstrengung, den Klopfer zu betätigen, und angesichts seines vernachlässigten Aussehens rechnete sie nicht mit einer Antwort; aber der erste Schlag war kaum erklungen, da wurde die Klappe geöffnet, und sie sah sich einem Helm gegenüber. Denn der Torwächter auf der anderen Seite trug von Kopf bis Fuß eine rostige, moosbewachsene Rüstung. Der Torwächter sagte nichts, sondern starrte Prinzessin Nell nur an; das jedenfalls vermutete sie, da sie sein Gesicht durch die schmalen Schlitze des Helmvisiers hindurch nicht sehen konnte.
»Guten Tag«, sagte Prinzessin Nell. »Ich bitte um Verzeihung, aber ich bin als Reisende in dieser Gegend unterwegs und habe mich gefragt, ob Sie vielleicht so nett wären und mir eine Unterkunft für die Nacht überlassen könnten.«
Der Torwächter schlug ohne ein Wort die Klappe zu. Nell konnte das Quietschen und Scheppern seiner Rüstung hören, als er sich langsam entfernte.
Ein paar Minuten später hörte sie ihn zurückkommen, aber nun hatte sich das Geräusch verdoppelt. Die rostigen Schlösser der Judastür rumpelten und quietschten. Die Tür schwang auf, und Prinzessin Nell trat zurück, als abblätternder Rost, Fragmente von Flechten und Moosstücke ringsum herabregneten. Nun standen zwei Männer in Rüstungen vor ihr und winkten sie näher.
Nell trat durch die Tür auf die dunklen Straßen des Schlosses. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Ein Schraubstock aus Eisen legte sich um beide Oberarme von Prinzessin Nell; die Männer hatten sie mit ihren Handschuhen gepackt. Sie hoben sie hoch und trugen sie mehrere Minuten lang durch Straßen, Treppen und Flure des Schlosses. Nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Nicht einmal eine Maus oder Ratte ließ sich blicken. Kein Rauch stieg von den Kaminen auf, kein Licht leuchtete hinter den Fenstern, und in den langen Fluren, welche zum Thronsaal führten, hingen die Fackeln kalt und rußgeschwärzt in ihren Halterungen. Von Zeit zu Zeit sah Prinzessin Nell einen weiteren Soldaten in Rüstung strammstehen, aber da sich keiner bewegte, konnte sie nicht sagen, ob es sich um richtige Männer, oder nur um Rüstungen handelte.
Nirgendwo sah sie die üblichen Hinweise auf Handel oder menschliche Aktivitäten: Pferdeäpfel, Orangenschalen, bellende Hunde, Wasser in Rinnsteinen. Leicht erschrocken sah sie jedoch eine ungewöhnlich große Anzahl Ketten. Die Ketten waren ausnahmslos von identischer, etwas eigentümlicher
Machart und
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