Diamond Age - Die Grenzwelt
gewaltiges Scheppern ertönte in dem Thron. Der zweite Soldat ergriff das Ende der Kette, als sie auf seiner Seite herauskam, und schob sie in die Öffnung seines Visiers. Einen Augenblick später kam sie zu einer Klappe an seiner Brust wieder heraus. Auf diese Weise wurde die Kette in voller Länge, alles in allem etwa acht bis neun Meter, langsam und lautstark aus dem Eimer genommen, durch den lärmenden Mechanismus im Inneren des Throns gezogen, den Hals des zweiten Soldaten hinunter, zur Klappe an seiner
Brust wieder heraus und von da langsam auf den Boden, wo sie allmählich einen öligen Wulst bildete. Der ganze Vorgang dauerte wesentlich länger, als Prinzessin Nell zunächst angenommen hatte, da die Kette ab und zu die Richtung änderte; wenn der Korb fast leer war, kam es mehr als einmal vor, daß die Kette wieder hineingekippt wurde, bis er wieder fast voll war. Im großen und ganzen aber wurde sie mehr vorwärts als rückwärts gezogen, und schließlich glitt das letzte Glied aus dem Korb und verschwand in dem Thron. Sekunden später verstummte der Lärm im Thron; jetzt konnte Nell nur noch ein deutlich leiseres Klappern von dem zweiten Soldaten hören. Schließlich verstummte auch das, und die Kette fiel aus seiner Brust. Der Soldat hob sie mit den Armen auf und verstaute sie in einem leeren Korb, der praktischerweise in der Nähe stand. Dann kam er auf Nell zu, bückte sich an der Taille und drückte ihr seine harte, kalte Schulter auf unangenehme Weise in den Magen und hob sie vom Boden hoch wie einen Sack voll Getreide. Er trug sie mehrere Minuten durch das Schloß, die meiste Zeit endlose Treppen hinab, und brachte sie schließlich in ein sehr tiefes, dunkles und kaltes Verlies, wo er sie in einer kleinen und stockfinsteren Zelle einsperrte.
Nell sagte: »Prinzessin Nell benutzte einen der Zaubersprüche, die Purpur ihr beigebracht hatte, um Licht zu machen.«
Prinzessin Nell konnte sehen, daß der Raum etwa zwei mal drei Schritte maß; eine Bank aus Stein an einer Wand diente als Bett, ein Loch im Boden als Toilette. Ein winziges, vergittertes Fenster an der Rückwand führte zu einem Luftschacht. Dieser Schacht war offenbar recht tief und schmal, und sie schien sich ziemlich an seinem unteren Ende zu befinden, da überhaupt kein Licht nach unten drang. Der Soldat verließ die Zelle und zog die Tür hinter sich zu; dabei sah Nell, daß das Türschloß außergewöhnlich groß war, etwa die Abmessung eines an der Tür verschraubten Brotkastens aus Eisen hatte, von Zahnrädern nur so wimmelte und eine große Kurbel besaß, die aus ihrem Mittelpunkt herausragte.
Die Tür war mit einem kleinen Guckloch ausgestattet. Nell spähte hinaus und stellte fest, daß der Soldat keinen eigentlichen Schlüssel besaß. Statt dessen nahm er ein kurzes Stück Kette, etwa so lang wie sein Arm, von einem Pflock an der Wand und führte sie in das riesige Schloß ein. Dann drehte er an der Kurbel. Die Zahnräder klapperten, die Kette klirrte, und schließlich schnellte der Bolzen heraus, faßte im Türrahmen und sperrte Prinzessin Nell so in dem Verlies ein. Sofort fiel die Kette aus dem Schloß und landete auf dem Boden. Der Soldat hob sie auf und hängte sie wieder an die Wand. Dann entfernte er sich scheppernd und kehrte erst sieben Stunden später mit etwas Brot und Wasser zurück, das er direkt über dem mechanischen Schloß durch die kleine Klappe mitten in der Tür schob.
Prinzessin Nell brauchte nicht lange, um das winzige Gefängnis ihrer Zelle zu erforschen. In einer Ecke fand sie, unter Staub und Schutt begraben, etwas Hartes und Kaltes und zog es heraus, damit sie es besser betrachten konnte: Es war das Bruchstück einer Kette, ziemlich rostig, aber eindeutig als dieselbe Art von Kette erkennbar, die sie überall in Schloß Turing gesehen hatte.
Die Kette war flach. Jedes Glied besaß ein Gelenk: ein bewegliches Stück Metall in der Mitte, das sich drehen ließ und in zwei verschiedenen Positionen einrasten konnte, entweder parallel oder lotrecht zur Kette.
In ihrer ersten Nacht in der Zelle fand Prinzessin Nell noch zweierlei heraus. Erstens, die Klappe der kleinen Öffnung, durch die ihr Essen hereingeschoben wurde, ließ sich teilweise von innen bewegen, und es gelang Nell mit einiger Anstrengung, sie so zu verkanten, daß sie nicht mehr richtig schloß. Danach konnte sie den Kopf zu der Öffnung hinausstrecken und ihre Umgebung erkunden, einschließlich des mechanischen Schlosses. Oder sie
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